Kürzlich widmete das britische Magazin The Economist Titelblatt und Leitartikel der Klage über die neue Ära des staatlichen Interventionismus.1 Das ist insofern bemerkenswert, als der Economist kein Anwalt des laisser-faire ist. Schon sein legendärer Herausgeber Walter Bagehot sah die Notwendigkeit der Zentralbank als Kreditgeber der letzten Instanz für Banken, und seine Nachfahren von heute haben nie die konstruktivistische moderne Geldpolitik und staatlich organisierte grüne Transformationspolitik grundsätzlich in Frage gestellt. Nun sieht das Magazin aber den Beginn einerneuen Phase des staatlichen Interventionismus aufgrund des lautstarken Rufs der Bürger nach dem Staat zur Lösung ihrer Probleme.
In der jüngeren Vergangenheit hat die Finanzkrise einen Wandel der die Allgemeinheit leitenden „Grundidee“ angestoßen, der in der Pandemie überwältigend wurde. Die gesellschaftlichen Übel werden der kapitalistischen Wirtschaftsordnung angelastet, der Staat soll sie daher lenken und seine Bürger vor allen Risiken beschützen. Dabei ist der Aufstieg der Staatsgläubigkeit in Europa stärker als in Amerika und Asien. Angesichts der mit der Staatstätigkeit verbundenen geringeren wirtschaftlichen Effizienz – und der dysfunktionalen politischen Struktur der Europäischen Union – spricht das für den weiteren Abstieg Europas als wirtschaftliche und politische Macht in der Welt.
Die Interpretation der Geschichte ist die Domäne der Historiker. Daher birgt es Risiken für den Ökonomen, sich ebenfalls daran zu versuchen. Andererseits wird die Ökonomie zu einer weltfremden und blutleeren Wissenschaft, wenn sie die Geschichte ignoriert. Daher bitte ich die Historiker um Nachsicht, wenn ich die Geschichte durch die ökonomische Brille zur Erlangung ökonomischer Einsichten betrachte.
So gesehen scheint mir die am Ende der Epoche der Aufklärung stehende Französische Revolution als der Urknall für die Entwicklung zum politischen Konstruktivismus in Europa. Sie begann als Aufstand des bürgerlichen Standes gegen den Adel und endete in der gewalttätigen Herrschaft des Pöbels, die das Land für die Diktatur unter Napoleon Bonaparte reif machte. Aus der Diktatur entwickelte sich unter vielen Geburtsschmerzen gegen Ende des neunzehnten und im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts der demokratische französische Rechtsstaat, der im Verlauf des 20. Jahrhundert ein zunehmend größeres Gewicht auf staatliche Planung und Lenkung legte. In der Eurokrise und Pandemie wurde der französische Dirigismus „europäisiert“, indem das „nordische“ auf das „lateineuropäische“ Modell für die Währungsunion umgebaut wurde.
Die Französische Revolution gab den Anstoß für zwei Geisteshaltungen, die zur Entfaltung des politischen Konstruktivismus in ganz Europa beitrugen. Zum einen setzte sie ein Fanal für den Umsturz organisch gewachsener Gesellschaftsstrukturen. Zum anderen bestärkte sie die Konstruktivisten bei der Schaffung von mehr sozialer Gleichheit.
Im Schlachtruf der Revolution wurde die Liberté schnell von den im sozialen Sinne verstandenen Égalité und Fraternité in den Schatten gestellt. Folglich wurde dem Staat die Aufgabe der Umverteilung von am Markt erzielten Einkommen zugewiesen. Je stärker das Verlangen nach Fraternité wurde, desto mehr wurde die Bedeutung der Égalité von der Gleichheit vor dem Gesetz zur sozialen Gleichheit umgemünzt. Da Menschen grundsätzlich verschieden sind, erfordert die Herstellung sozialer Gleichheit jedoch Ungleichheit vor dem Gesetz, so dass am Ende die Freiheit des Einzelnen auf der Streck bleibt.
Wie ich an anderer Stelle erklärt habe, wurden die Geschehnisse in Großbritannien und den USA lange Zeit von anderen Kräften bestimmt.2 Dort schuf die Auseinandersetzung mit der Calvinistischen Prädestinationslehre in der Zeit des „Whig-Liberalismus“ Raum für die Entwicklung der Marktwirtschaft und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Durch Krieg und Depression in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bedingte Hinwendung zum Staatsinterventionismus wurde durch Ronald Reagan und Margret Thatcher Anfang der 1980er Jahre wieder korrigiert. In der Finanzkrise und Pandemie erlebte der Interventionismus auch dort ein Comeback, aber die kapitalistische Wirtschaftsordnung wurde weit weniger in Frage gestellt als in Europa. Neu-linke Politik durchdrang stärker den Bereich der Kultur als den der Wirtschaft.
Für die Entwicklung des politischen Konstruktivismus spielten die Intellektuellen eine entscheidende Rolle. Friedrich von Hayek vergleicht den Intellektuellen mit einem Gebrauchtwarenhändler für Ideen, die von „Experten“ oder „Philosophen“ produziert werden.3 Der Intellektuelle braucht für seine Rolle als Mittler von Ideen weder besondere Kenntnisse noch höhere Intelligenz. Was ihn für seine Tätigkeit qualifiziert, ist die Fähigkeit, neue Ideen aufzuspüren und über eine breite Palette von Themen schreiben und reden zu können.
Der Intellektuelle kommt aus meist wohlhabenden bürgerlichen Verhältnissen, muss sich oft wenig um die praktischen Dinge des Lebens kümmern und hat daher für diese wenig Verständnis. Stattdessen versucht er, die Welt mit einer abstrakten und allumfassenden Theorie zu erklären. Das gelingt umso besser, je vager diese Theorie ist. Nach ihr möchte er am grünen Tisch die Welt konstruieren. Er unterschätzt die Komplexität einer über die Zeit gewachsenen Gesellschaftsordnung und hält seine Theorie für überlegen.
Hayek merkt an, dass die Gegnerschaft zur gewachsenen kapitalistischen Ordnung der Wirtschaft und die Konstruktion materieller Gleichheit in der Gesellschaft immer ein besonderes Anliegen der Intellektuellen war. Und er deutet an, dass dies daran liegen könnte, dass der Intellektuelle seine Leistungen weit höher einschätzt als den Verdienst, den er damit am Markt erzielen kann. Ihr Hang zur Konstruktion von politischen Utopien und ihre Verachtung „spontan“ entstandener Ordnungen qualifiziert die Intellektuellen für die Rolle des Revolutionärs – oder dessen Kleinformat des widerrechtlich handelnden Demonstranten unserer Tage.
Rainer Zitelmann sieht in der Klasse der Intellektuellen eine sich gegenüber der Wirtschaftselite benachteiligt fühlende Gegenelite.4 Das daraus entstehende Ressentiment, gepaart mit der Neigung zu abstrakten Theorien über die Welt, motiviert sie zu „Antikapitalismus“ und „Sozialismus“. Peter Turchin vertritt die These, dass frustrierte Eliteaspiranten Gegeneliten bilden und versuchen, die Masse der Bevölkerung gegen die herrschenden Eliten zu mobilisieren.5 Das Ergebnis ist soziopolitische Instabilität bis hin zu Revolution und Bürgerkrieg.
Ein Blick auf den Werdegang einiger berühmter Intellektueller der Geschichte stützt diese Einschätzungen. Maurice de Robespierre, der wohl bekannteste Protagonist der französischen Revolution, war der Sohn eines angesehenen Advokaten. Seinem Vater folgend studierte er Rechtswissenschaft und wurde Anwalt. Nebenbei war er ein großer Verehrer des Philosophen Jean-Jacques Rousseau, dessen Lehre vom Gemeinwillen, der volonté générale, er in der Revolution mit Terror durchsetzen wollte. Als terroristischer Revolutionär aus der Klasse der Intellektuellen fand er in den folgenden Jahrhunderten viele Nachahmer.
Wie Robespierre war auch Karl Marx, den man mit Hayek als „Philosophenprinz unter den Intellektuellen“ bezeichnen kann, Sohn eines angesehenen Anwalts. Bei Schul- und Hochschulbildung wurde er von der Familie, bei der Entwicklung seiner Philosophie von seinem Freund und Gönner, dem wohlhabenden Fabrikanten Friedrich Engels, unterstützt. Marx hegte ein tiefes Ressentiment gegen die preußische Obrigkeit und konstruierte aus Versatzstücken der Philosophie von Friedrich Wilhelm Hegel und der Ökonomie von Adam Smith und David Ricardo eine Theorie der Geschichte, die der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung den unweigerlichen Kollaps prophezeite.
Wladimir Uljanow, der später Lenin genannt wurde, war der Sohn eines Lehrers und Direktors der Volksschuleinrichtungen im Bezirk Simbirsk, der wegen seiner Verdienste vom Zaren in den Adelsstand erhoben wurde. Lenin konnte Rechtswissenschaften an der Universität Kasan studieren, da er vom Vermögen seiner Familie lebte. Nach Studien in Sankt Petersburg, Frankreich, der Schweiz und Deutschland kehrte er Ende des 19. Jahrhunderts nach Russland zurück, betätigte sich als Agitator und begann seine Karriere als marxistischer Revolutionär. Mit der Oktoberrevolution von 1917 organsierte er für den Marxismus einen Praxistest, in dem dieser nach mehr als 70 Jahren Probezeit krachend scheiterte.
Mao Zedongs Vater war ein wohlhabender Großhändler. Weil er aus seinem Sohn einen Gelehrten machen wollte, gab er ihm den Namen Zedong, „Wohltäter des Ostens“, und schickte ihn auf verschiedene Schulen. Während der Ausbildung zum Lehrer entdeckte Mao schließlich seine politische Berufung und gründete eine Vereinigung mit keinem geringeren Ziel, als China und die ganze Welt zu erneuern. Das gelang ihm. Allerdings wurde dabei aus dem vom Vater gewünschten „Wohltäter“ einer der größten Massenmörder der Geschichte.
Saloth Sar stammte aus einer wohlhabenden, mit dem kambodschanischen Königshaus verbundenen Familie. Während eines Auslandsstudiums in Paris Anfang der 1950er Jahre lernte er die kommunistischen Traumvorstellungen kennen, die unter Pariser Intellektuellen damals schick waren. Zurück in der Heimat, trat er der konspirativ agierenden Kommunistischen Partei Indochinas bei und arbeitete als Lehrer. Unter dem Namen Pol Pot stieg er zum kambodschanischen Staatschef und Diktator auf. Als „Bruder Nr. 1“ organsierte er Mitte der 1970er Jahre die „Killing Fields“, auf denen im Namen der sozialen Gleichheit und des Kommunismus ein großer Teil der Elite des Landes umgebracht wurde.
Bis auf Marx, den „Philosophenprinzen“ unter den angeführten Beispielen, waren diese Intellektuelle mörderische Gewalttäter, davon beseelt, ohne Rücksicht auf Verluste eine „bessere“ Welt zu konstruieren. Außer Robespierre, der Marx vorausging, beriefen sie sich bei ihren Mordtaten auf dessen Theorie. Das von ihnen geschaffene Modell des marxistischen mörderischen Intellektuellen fand später viele Nachahmer. Im Namen des Sozialismus und Antikapitalismus handelten aber auch nationalistische Intellektuelle, meist nicht weniger abscheulich.
Wie Gustav Le Bon in seinem hundert Jahre nach Robespierres Tod erschienenen Klassiker zur Massenpsychologie am Beispiel der Französischen Revolution herausarbeitete, handelt der intellektuelle Revolutionär nicht allein, sondern bringt die Masse dazu, mit ihm zu handeln.6 Robespierre stachelte den Pöbel zu Gewalttaten an, zu denen der Einzelne kaum fähig gewesen wäre. Aber der Pöbel war launisch und wandte sich schließlich gegen ihn. Die Revolutionäre nach ihm umgaben sich daher zur Absicherung mit „Prätorianergarden“ („Rote Garden“ bei Lenin und Mao), die sie für die Ausübung von Terror ideologisch motivierten.7 Die Terrorherrschaft wurde nachhaltiger. Wo dies nicht gelang, blieben die Terroristen Einzeltäter ohne die von ihnen gewünschte politische Wirkung.8
Heute dominiert die mildere Variante des revolutionären Intellektuellen, die statt mit Massenmord und Terror durch ideologische Beeinflussung der Menschen die Gesellschaft in ihrem Sinne ändern will. Das Rezept für die Mutation lieferte der italienische Marxist (und Intellektuelle) Antonio Gramsci. Der Theoretiker moderner politischer Herrschaft befand, dass sich diese nicht allein auf Gewalt und Terror bauen lässt. Sie braucht Gefolgschaft. Denn im Gegensatz zum Russland vor der Oktoberrevolution des Jahres 1917 wird der moderne westliche Staat von der bürgerlichen Kultur seiner Gesellschaft untermauert. Will man ihn stürzen, reicht ein Staatsstreich nicht aus.
Gramsci meinte, dass in diesem Kulturkreis „jeder Revolution eine intensive kritische und kulturelle Arbeit vorausging, dass zunächst widerspenstige Menschen kulturell und ideologisch durchdrungen wurden“.9 Die Revolutionäre sollten daher als „kollektiver Intellektueller“ die Weltbilder der „subalternen Klassen“ in ihrem Sinne vereinheitlichen. Dazu müssten sie die „kulturelle Hegemonie“ über die Gesellschaft erobern. Indem der „kulturelle Hegemon“ seine Interessen als die der anderen definiert, schafft er sich ohne Gewalt und Terror eine willige Gefolgschaft.
Nach dem zweiten Weltkrieg entdeckten zunächst die Neue Linke außerhalb des Sowjetimperiums (wo Gefolgschaft noch mit Gewalt erzwungen wurde) und später dann die Neue Rechte Gramscis Rezept für sich. Beide einte der Kampf gegen den Kapitalismus. Doch während der Neuen Rechten ein Außenseiterdasein beschieden war, gelang es der Neuen Linken, die kulturelle Hegemonie zu erobern. Nach „einem Marsch durch die Institutionen“ zog sie vor allem in staatliche Universitäten und Rundfunkanstalten ein und bestimmte von dort aus weitgehend den gesellschaftlichen Diskurs.
Wie Roger Scruton in seinem Portrait der Intellektuellen der Neuen Linken beschreibt, ist die Konstante in ihren Gesellschaftstheorien die Feindschaft gegen den Kapitalismus.10 Darüber hinaus verbreiten die neulinken Intellektuellen reichlich nebulöse Utopien, deren Inhaltslosigkeit sie sprachlich kaschieren. Dabei scheinen die neuen Linken in Frankreich die zu beherrschenden „subalternen Klassen“ vorzugsweise mit unverständlichen Sprachblasen einschüchtern zu wollen. Kostprobe aus dem Werk des in der Studentenrevolte der späten 1960er-Jahres gefeierten Psychiaters Jaques Lacan: „Nichts existiert, außer insofern als dass es nicht existiert“.11
Dagegen scheint die Neue Linke in Deutschland ihre „subalternen Klassen“ mit schier endlosen Tiraden in Bürokratensprache in die Unterwerfung texten zu wollen. Kostprobe aus einem monotonen achthundert Seiten Werk des gefeierten Philosophenprinzen Jürgen Habermaas: „Die der kommunikativen Alltagspraxis eigene Rationalität verweist auf die Praxis der Argumentation als Appellationsinstanz, die es ermöglicht, kommunikatives Handeln mit anderen Mitteln fortzusetzen, wenn Absprachen nicht mehr mit Alltagsroutinen eingelöst werden können und dennoch nicht durch direkte oder strategische Gewaltanwendung erledigt werden sollen.“12 Kaum einer der nachgelagerten Propagandisten des Antikapitalismus dürfte dieses und die vielen anderen voluminösen Werke des hochgeschätzten Autors gelesen, geschweige denn verstanden haben.
Möglicherweise ist die Verbrämung des Antikapitalismus durch Sprachblasen und Textwüsten ans Ende ihrer Wirkungskraft gekommen. Eine neue linke Intellektuellenklasse scheint im Aufwind, die Antikapitalismus und Staatsgläubigkeit in verständlicher Sprache vorträgt. Weltfremder Konstruktivismus und Staatsgläubigkeit wird mit hohem Selbstvertrauen hinter munteren Gesichtern versteckt. Zu dieser Klassen gehören zum Beispiel die Ökonominnen Minouche Shafik und Marina Mazzucato, deren jüngste Beiträge mein Kollegen Marius Kleinheyer kommentiert hat.13
Nur zwei Jahre nach Veröffentlichung des dritten Bands von „Das Kapital“ kritisierte der österreichische Ökonom und Finanzminister Eugen von Böhm-Bawerk im Jahr 1896 die von Marx entwickelte ökonomische Theorie als inkonsistent und empirisch falsch. Im Verlauf der 1920er Jahre veröffentlichte Ludwig von Mises mehrere Beiträge, in denen er nachwies, dass im zentralgeplanten sozialistischen Wirtschaftssystem eine sinnvolle Wirtschaftsrechnung unmöglich und dieses System daher logischerweise ökonomisch funktionsunfähig war. Friedrich von Hayek zeigte in seinem 1944 erschienenen Buch The Road to Serfdom, wie die Zentralplanung im Sozialismus unweigerlich in den Totalitarismus führt. Und im Jahr 1945 legte Karl Popper in seinem Werk The Open Society and its Enemies eine Fundmentalkritik von Marx‘ deterministischer Geschichtstheorie und der daraus folgenden „geschlossenen Gesellschaft“ vor.
In seinem 1957 erschienen Buch Theory and History bringt Ludwig von Mises den Zirkelschluss der von Marx vertretenen Geschichtstheorie des „dialektischen Materialismus“ auf den Punkt: „Der Sozialismus wird zwangsläufig als die nächste Stufe der historischen Entwicklung kommen. Da er eine spätere Stufe in der Geschichte ist als der Kapitalismus, ist er notwendigerweise höherwertig und besser als der Kapitalismus. Warum muss er kommen? Weil die Werktätigen, die im Kapitalismus zur fortschreitenden Verarmung verdammt sind, aufbegehren und den Sozialismus errichten werden.“ Warum aber den Sozialismus und keine andere Gesellschaftsform? Weil Marx sagt, „dass der Sozialismus unvermeidlich ist. Der Kreis ist geschlossen.“
Man sollte meinen, dass die logisch stringente Kritik der Marxschen Theorie von Wirtschaft und Geschichte sowie die durch einen sieben Jahrzehnte dauernden Großversuch erbrachte empirische Widerlegung den Marxismus und aus ihm folgenden Antikapitalismus zum Einsturz gebracht haben sollte. Dem ist aber nicht so. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Erstens ist der Wunsch der Menschen nach sozialer Harmonie in ihren Gefühlen angelegt. Jede Utopie, die diesem Wunsch entspricht, fällt auf einen fruchtbaren Boden. Zweitens ist es Marx und seinen Nachfolgern gelungen, ihre angeblich wissenschaftliche Theorie gegen rationale Kritik zu immunisieren.
Die Immunisierung erfolgt zum einen dadurch, dass die Kritik als vom Interesse des Kritikers geleitet disqualifiziert wird. Wer den Marxismus (und seine Spielarten) kritisiert, verteidigt den Kapitalismus, weil dieser ihm nützt. Zum anderen wird die Theorie auf Leerformeln gebaut, die aufgrund ihrer Vagheit keine Angriffspunkte bieten. Um die nicht zu widerlegende Kritik an dem viel zu konkreten ursprünglichen Gedankengebäude von Marx abzuwehren, schufen die Philosophenprinzen der Neuen Linken unverständliche Sprachblasen, die ihr Intellektuellengefolge den „subalternen Klassen“ als geniale Einsichten verkaufte, deren Verständnis ihre geistigen Fähigkeiten überforderte. Und wenn der Sowjetsozialismus krachend gescheitert ist, dann nicht, weil er nicht funktionieren konnte, sondern weil die an sich richtige Theorie unzulänglich umgesetzt wurde.
Nach dem Untergang des Sowjetimperiums befand sich die Neue Linke vorrübergehend in der Defensive. Doch die Finanzkrise von 2007/08 gab ihr die Gelegenheit, ihre antikapitalistische Erzählung wiederzubeleben. Die Beschwörung eines Klimanotstands seit Beginn des letzten und die Coronapandemie zu Beginn des gegenwärtigen Jahrzehnts führten zum Ruf nach dem planenden und beschützenden Staat. Ungeachtet des offensichtlichen Staatsversagens in der Bewältigung des Klimawandels und den Folgen der Pandemie haben diese Entwicklungen sowohl die antikapitalistische Erzählung als auch die Staatsgläubigkeit zur vollen Blüte gebracht.
In einem neuen Buch hat Rainer Zitelmann umfangreiche Umfragen in vierzehn Ländern zur Einstellung der Menschen zum Kapitalismus vorgelegt.14 Zu den Ländern, in denen eine positive Einstellung überwiegt, gehören Polen, die USA, Südkorea und Japan. Neutral stehen dem Kapitalismus die Bevölkerungen in Schweden und Brasilien gegenüber. Und eine überwiegend antikapitalistische Einstellung haben (in zunehmender Reihenfolge) die Menschen in der Schweiz, Chile, Italien, Großbritannien, Deutschland, Österreich, Spanien und Frankreich.
Die Meinungen, dass im Kapitalismus die Reichen die Politik bestimmen, Egoismus und Profitgier gefördert werden und die Ungleichheit steigt, sind weit verbreitet. Dass der Kapitalismus die wirtschaftliche Freiheit stärkt, die Menschen zu Bestleistungen anspornt und der Verbraucher statt des Staats das Güterangebot bestimmt, glauben nur wenige. Bevor er die Umfragen erläutert, widerlegt Zitelmann ausführlich die zehn populärsten Falschbehauptungen der Antikapitalisten. Obwohl es zu wünschen wäre, wird er eine unter der kulturellen Hegemonie der Linksintellektuellen stehende Öffentlichkeit damit jedoch nicht überzeugen können.
Der Aufstieg der Staatsgläubigkeit hat in den westlichen Demokratien den bürokratischen Staat gestärkt. Besonders ausgeprägt ist diese Entwicklung in der Europäischen Union, wo das Misstrauen gegenüber dem Kapitalismus am intensivsten ist. Beispiele für den Siegeszug der Bürokratie auf EU-Ebene sind die Repression des Zinses durch die Europäische Zentralbank, die von der EU-Kommission planwirtschaftlich verfolgte „Grüne Transformation“, der mit viel Geld ausgestattete EU-Wiederaufbaufonds sowie die Lenkung der Finanzindustrie durch eine „grüne“ und bald auch „soziale“ Taxonomie, die den gesellschaftlichen Nutzen von Unternehmen klassifizieren soll.
Das Pendant der „starken Bürokratie“ in den demokratischen Staaten ist der „starke Mann“ in den autokratischen oder totalitären Staaten. Zu diesen Nutznießern der Staatsgläubigkeit gehören „starke Männer“ wie Xi Jinping, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan, Jair Bolsonaro oder Victor Orban.
Diese berühmte Frage Lenins stellt sich auch der besorgte Bürger und Anleger. Als Bürger Deutschlands kann er immerhin darauf vertrauen, dass er kaum in einem totalitären oder autokratischen Staat wie dem „Dritten Reich“ oder der früheren „DDR“ aufwachen wird. Zur Abschaffung des Rechtsstaats und der Demokratie wird die kulturelle Hegemonie der Linksintellektuellen nicht reichen.15
Als Anleger muss er sich aber darauf einstellen, dass mit dem Aufstieg der Staatsgläubigkeit die Wucherungen der Bürokratie der Wirtschaft schwer zu schaffen machen werden. Wie gesagt wird dies vor allem die Staaten der Eurozone treffen, wo die europäische und nationalstaatliche Bürokratie die Wirtschaft mit vereinten Kräften lähmen. Er kann sich dem aber entziehen, in dem er Anlagen in den USA bevorzugt.
Das in biblischen Worten früher als „leuchtende Stadt auf dem Hügel“ gepriesene Land hat wahrlich viele eigene Probleme. Schwarzseher halten die Gesellschaft für so gespalten, dass eine neue Form des Bürgerkriegs nicht ausgeschlossen werden könne. Das mag so sein. Aber der Antikapitalismus ist dort weniger ausgeprägt und die bürokratische Strangulierung der Wirtschaft weniger wahrscheinlich.16 Auch ein neuer oder ein Comeback des alten Donald Trump dürfte das nicht grundlegend ändern. Folglich dürfte die US-Wirtschaft auch in Zukunft im Vergleich zu Europa und Asien innovationsfreudiger und dynamischer bleiben. Nicht ohne Grund haben US-Unternehmen schon heute den größten Anteil an der Kapitalisierung des globalen Aktienmarkts. Mit Anlagen dort kann der bürokratisch gegängelte EU-Bürger zumindest seine Kapitaleinkünfte aufbessern.
1 „Beware the bossy state – Government, business and the new era of intervention”, The Economist vom 15-21. Januar 2022.
2 „Der wankenden Hegemon“ (23.12.2021, https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/der-wankende-hegemon/).
3 F.A. Hayek (1949). The Intellectuals and Socialism. The University of Chicago Law Review (Spring).
4 Rainer Zitelmann (2020). Der verpönte Kapitalismus – und warum Intellektuelle ihn nicht mögen. Austrian Institute (6. Juli).
5 Peter Turchin (2016). The Age of Discord. Beresta Book (Chaplin, Connecticut).
6 Gustave Le Bon (1895). Psychologie des foules. Paris.
7 Hermann Lübbe beschreibt, wie der SS-Führer Heinrich Himmler seine Truppe für den Massenmord ideologisch stählte (Politischer Moralismus, LIT-Verlag (Berlin) 2019).
8 Ein Beispiel in der jüngeren deutschen Geschichte ist die sogenannte „Rote-Armee-Fraktion“ oder „Baader-Meinhof-Bande“. Statt die Gesellschaft in ihrem (marxistischen) Sinn zu beeinflussen, mobilisierte sie die Gesellschaft gegen sich selbst.
9 Zitiert nach Claus Leggewie (1987). Kulturelle Hegemonie – Gramsci und die Folgen. Leviathan Vol. 15, Nr.2, S. 285-304.
10 Roger Scruton (2019). Fools, Frauds and Firebrands. Bloomsbury Continuum (London).
11 Zitiert nach Scruton (2019), S. 246.
12 Zitiert nach Scruton (2019), S. 151.
13 Siehe „Noch mehr Staat wagen?“ (16.4.21, https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/noch-mehr-staat-wagen/) und „Sicherheit für Alle?“ (9.11.21, https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/sicherheit-fuer-alle-minouche-shafiks-what-we-owe-each-other/).
14 Rainer Zitelmann (2022). Die 10 Irrtümer der Anti-Kapitalisten. Finanzbuchverlag (München).
15 Eine kulturelle Hegemonie der Rechtsintellektuellen ist in Deutschland so gut wie ausgeschlossen, weshalb der vielbeschworene „Kampf gegen Rechts“ – im Gegensatz zur Verfolgung von rechtsextremem Terrorismus – nur eine Phrase ist.
16 Dafür spricht die gelegentlich zu beobachtende unerschrockene politische Unkorrektheit. Ein Beispiel ist die kürzlich gegründete „Bad Investment Company“, deren Gründer erklärt: „We don’t believe social stigmas should be a primary factor when it comes to deciding what’s a good company” (https://badinvestmentco.com/).
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