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Die größten Feinde des Westens

- Norbert F. Tofall

Die größten Feinde des Westens sind nicht China und Russland und auch nicht die BRICS+. Russland und China sind zwar auch große Feinde des Westens, aber die größten Feinde des Westens sind die eigene horrende Staatsverschuldung, die Produktivitäts- und Investitionsschwäche und die schleichende Kapitalaufzehrung. Allein die Staatsverschuldung vieler westlicher Staaten und insbesondere der USA hat ein Ausmaß angenommen, das in Friedenszeiten noch nicht vorkam. Die Lage ist deshalb für China und Russland günstig, die westliche Währungsdominanz und den US-Dollar als Weltleitwährung anzugreifen.1

Zudem liegen die eigentlichen geoökonomischen und geopolitischen Herausforderungen erst noch vor dem Westen. Bei Betrachtung der Bruttoinlandsprodukte westlicher Staaten auf der einen Seite und von China und Russland auf der anderen Seite (siehe Schaubild 1) müßte der Westen diese Herausforderungen aber eigentlich meistern können, wenn er halbwegs geschlossen gegen China und Russland seine ökonomischen und politischen Interessen vertritt und sich auf eine gemeinsame China- und Russland-Strategie einigt.

Die größten Feinde des Westens - Flossbach von Storch

Aber aufgrund der hohen Staatsverschuldung, ihrer Produktivitäts- und Investitionsschwäche und der schleichenden Kapitalaufzehrung werden viele westliche Staaten von den vor uns liegenden geoökonomischen und geopolitischen Herausforderungen auf dem falschen Fuß erwischt. Zudem bilden die auf jahrelangen Problemverschleppungen beruhenden Wachstumshemmnisse in vielen westlichen Ländern die tieferen Ursachen für die letztlich selbstzerstörerischen politischen Versuche von populistischen linken und rechten Bewegungen, den Wohlstand der eigenen Nation durch Protektionismus und Isolationismus bewahren oder sogar steigern zu wollen und durch sicherheitspolitische und ökonomische Sonderdeals mit China und Russland abzusichern.

Daß China und Russland angesichts der ökonomischen Kräfteverhältnisse (siehe Schaubild 1) die dominante Strategie verfolgen, den Westen auf allen Ebenen ökonomisch, politisch und kulturell zu spalten, ist offensichtlich. Die BRICS+ sind dabei nur Mittel zum Zweck.

Die chinesische und russische Strategie kann angesichts der immer noch bestehenden ökonomischen Größenverhältnisse nur aufgehen, wenn sich der Westen spalten läßt und seine größten Feinde, die hausgemacht sind, nicht bekämpft.

I.

Von jeher gibt es Studien, die den Aufstieg und Niedergang von Imperien und Nationen analysieren.2 Und in der im letzten Jahr veröffentlichten Studie von Peter Heather und John Rapley „Stürzende Imperien. Rom, Amerika und die Zukunft des Westens“ wird insbesondere auf die hohe Staatsverschuldung und die Produktivitätsschwäche als Ursachen für die derzeitigen ökonomischen und politischen Probleme des Westens hingewiesen und ein Zusammenhang zwischen den beiden Phänomen vermutet.3

Der rasante soziale und technologische Wandel habe im 20. Jahrhundert die Produktivität der Arbeit revolutioniert. Zudem hätten die westlichen Volkswirtschaften ihr Wachstum ankurbeln können, „indem sie Anleihen auf zukünftige Erträge“ beschleunigten, Erträge, „die letztlich aus produktiven Investitionen resultierten.“ Es sei jedoch heutzutage nicht leicht, die Kreditaufnahme für produktive Investitionen von der Kreditaufnahme zur Deckung ausstehender Ausgaben zu unterscheiden. „Selbst offenbar altmodische Infrastrukturprojekte sind im modernen Westen nicht immer das, was sie zu sein scheinen.“4

So eröffne der Bau einer neuen Brücke neue Handelswege, verringere Transportkosten und Reisezeiten und generiere so neue wirtschaftliche Aktivitäten, während die Reparatur einer alten Brücke lediglich die bestehenden Handelswege offenhalte und bereits existierende Aktivitäten sichere.5 Mit Friedrich August von Hayek kann man über Heather und Rapley hinausgehend sagen, daß der Bau einer neuen Brücke den Kapitalstock erhöht, die Reparatur einer Brücke den Kapitalstock erhält und der Zerfall einer Brücke zur Kapitalaufzehrung führt. Lediglich der Bau einer neuen Brücke zählt zu den Investitionen, welche die Produktivität ceteris paribus erhöhen können.

Heather und Rapley führen nun aus, daß heutzutage große Gewinne, die sich durch staatliche Infrastrukturprojekte und andere Formen direkter staatlicher Anreize erzielen ließen, immer weiter aus dem Westen verlagert hätten. Zwar würden einige Ökonomen behaupten, daß sich dies durch neue Produktivitätsrevolutionen beispielsweise in der Informationstechnologie ändern könne und die alten gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten des Westens wieder erzielt werden könnten, aber darauf würde nun schon 40 Jahre gewartet: „Robert Solow sagte bereits 1987, dass sich das Computerzeitalter überall finde, außer in den Produktivitätsstatistiken. Und das scheint immer noch der Fall zu sein.“6

Seit geraumer Zeit wachse die Produktivität in den meisten westlichen Ländern immer langsamer. In der Mitte des 20. Jahrhunderts habe der jährliche Produktivitätszuwachs pro Arbeitsstunde bei fast 3 Prozent gelegen. Seit den 1970er Jahren falle sie jedoch kontinuierlich und liege derzeit bei ca. 1 Prozent.7

Heather und Rapley gehen indes nicht darauf ein, daß die Produktivitätsentwicklung in den westlichen Ländern unterschiedlich ist, was höchst wahrscheinlich doch auf die Digitalisierung des Computerzeitalters, die insbesondere in den USA stärker ausgeprägt ist als in den Staaten der Europäischen Union, aber auch auf unterschiedliche ökonomische Regulierungs- und Anreizsysteme zurückzuführen ist. In den USA ist die die Produktivität seit 1995 sogar stärker als im Zeitraum von 1950 bis 1995 gestiegen (siehe Schaubild 2).

Die größten Feinde des Westens - Flossbach von Storch

In der Europäischen Union ist das Produktivitätswachstum vor allem seit 2015 deutlich zurückgegangen, während das Produktivitätswachstum in den USA durch die Pandemie erst unter das Produktivitätswachstum in Europa fiel, seit Ende der Pandemie aber wieder deutlich über das EU-Niveau gestiegen ist, siehe Schaubild 3.

Die größten Feinde des Westens - Flossbach von Storch

Heather und Rapley führen aus, daß für das 1 Prozent gesamtwirtschaftliches Produktivitätswachstum pro Arbeitsstunde in den westlichen Gesellschaften nur sehr wenige hochproduktive Menschen verantwortlich seien, die von einer Heerschar weniger spezialisierter Arbeitskräfte mit geringer Produktivität wie Reinigungskräften, Kindermädchen und Baristas usw. unterstützt würden. Heather und Rapley verbinden diesen Befund dann unvermittelt mit der Schuldenproblematik. Früher, also in Zeiten, in denen das Produktivitätswachstum auf vielen Menschen und breiten Schichten der Gesellschaft beruhte, wären Schulden eine Möglichkeit gewesen, in der Gesamtgesellschaft zukünftige Einkommen zu steigern. Gemeint ist damit wohl, daß die Kapitalausstattung pro Arbeitsstunde vieler Menschen und breiter Schichten mittels Schulden erhöht werden konnte, so daß die erhöhte Arbeitsproduktivität zu entsprechend höheren Reallöhnen führte. Heute seien Schulden in den westlichen Gesellschaften jedoch ein Finanzierungsmittel für Konsum in der Gegenwart, für den erst in der Zukunft bezahlt würde:8

„Weil der alte Mechanismus von Investitionen und Expansion zusammengebrochen ist, haben sich westliche Regierungen und Gesellschaften angewöhnt, neue Schulden nicht mehr so sehr für die Schaffung künftigen Wohlstands, sondern vor allem für die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Lebensstandards zu verwenden.“9

Diesem Befund kann nur zugestimmt werden. Und es hätte noch deutlicher herausgearbeitet werden müssen, daß sich in diesem Befund die größten Feinde des Westens – horrende Staatsverschuldung, Produktivitäts- und Investitionsschwäche und schleichende Kapitalaufzehrung – widerspiegeln. Aber beruht dieser durchaus richtige Befund wirklich auf der Ursachenanalyse, die Heather und Rapley uns anbieten? Eine falsche Ursachenanalyse führt mit logischer Konsequenz zu falschen Therapievorschlägen.

Aufgrund ihrer keynesianischen Ausrichtung gehen Heather und Rapley ihrem vermuteten Zusammenhang von Produktivitätsschwäche und Verschuldung leider nicht auf den Grund und vernachlässigen deshalb vollkommen, daß der Zusammenhang zwischen hoher Verschuldung und Produktivitätsschwäche aus unserem Geldsystem folgt. Denn die hohe Verschuldung vieler westlicher Staaten hätte nicht die bedrohlichen Folgen von Produktivitäts-, Investitions- und Wachstumsschwäche sowie Kapitalaufzehung, wenn diese Verschuldung aus Ersparnissen und damit aus Konsumverzicht bestehen würde und gerade nicht aus Kreditgeldschöpfung wie in unserem derzeitigen Geldsystem. Der „Mechanismus aus Investition und Expansion“ ist seit Anfang der 1970er Jahre durch immer grenzenlosere Verschuldung, die aus dem Nichts geschöpft wurde, fortschreitend außer Kraft gesetzt worden. Der Zusammenhang zwischen Investition und Expansion besteht letztendlich nur dann, wenn Investitionen gleich Ersparnissen sind oder zumindest nicht vollkommen entkoppelt werden. Aber genau das hat sich seit Anfang der 1970er Jahre durch die Auflösung der Dollarbindung an das Gold entwickelt.

Heather und Rapley verweisen zwar auf das sinkende Produktivitätswachstum in den westlichen Gesellschaften seit den 1970er Jahren, vermuten sogar einen Zusammenhang mit der Verschuldung, übersehen jedoch die fundamentalen Veränderungen des Geld- und Schuldensystems der westlichen Gesellschaften, die sich durch die Auflösung der Dollarbindung an das Gold seit Anfang der 1970er entwickelt haben: Die Finanzierung des Gegenwartskonsums durch Schulden, die erst in der Zukunft beglichen werden müssen, wird von unserem Geldsystem befördert, weil die heutige Verschuldung gerade nicht auf Konsumverzicht in der Gegenwart, also auf Ersparnissen, beruht.

Das heißt aber auch, daß die jahrelangen ökonomischen Problemverschleppungen in den westlichen Gesellschaften und die Produktivitäts-, Investitions- und Wachstumsschwäche durch Kreditschöpfung aus dem Nichts erzeugt wurden und auf unserem Geldsystem beruhen. Letztlich können diese Problemverschleppungen nur beendet werden, wenn eine Reform unseres Geld- und Schuldensystems in Angriff genommen wird. Positiv gewendet heißt das, daß der Westen mit einer möglichen und notwendigen Reform seines Geld- und Schuldensystems eine strategische Option ausspielen kann, die gerade dann nicht unterschätzt werden sollte, falls China und Russland die westliche Währungsdominanz und das westliche Geld- und Schuldensystem angreifen sollten.

II.

China, Russland und die BRICS wollen seit Jahren die Dominanz des Dollar als Weltleitwährung brechen und streben eine De-Dollarisierung der Weltwirtschaft an. Offene und verdeckte Goldkäufe durch viele Zentralbanken weltweit dürften auf dieses Ziel zurückzuführen sein. Der Zeitpunkt, den Westen an der geldpolitischen Achillesferse geoökonomisch anzugreifen, ist durchaus günstig.

Aber wird dieser Angriff durch eine goldgedeckte Währung erfolgen, die von China oder von den BRICS+ Staaten emittiert werden könnte? Und wie wahrscheinlich ist es derzeit, daß durch einen derartigen Angriff die Dollardominanz gebrochen wird?

Weder in der Abschlußerklärung des 15. BRICS-Ttreffens im August 2023 in Johannesburg10 noch in der Abschlußerklärung des 16. BRICS-Treffens im Oktober 2024 in Kazan11 ist von der zeitnahen Einführung einer gemeinsamen BRICS-Währung oder gar einer gemeinsamen goldgedeckten Währung die Rede. Die Dominanz des US-Dollar soll allein schon dadurch zurückgedrängt werden, daß die eigenen nationalen Währungen sowohl im internationalen Handel und bei Finanztransaktionen zwischen den BRICS-Staaten als auch zwischen den BRICS-Staaten und ihren Handelspartnern verwendet werden. Dazu wird seit Jahren der Aufbau eines eigenen Systems von Clearing und Settlement jenseits des SWIFT-Systems angestrebt, da das SWIFT-System auf das Engste mit dem US-Dollar und dem Euro verwoben ist.

Um Währungsschwankungen der eigenen nationalen Währungen zu begrenzen, haben die BRICS bereits 2014 das sogenannte Contingency Reserve Agreement (CRA) ins Leben gerufen. Zweck des CRA ist es, Kreditlinien bereitzustellen, die es den teilnehmenden Zentralbanken ermöglicht, Währungsschwankungen zu stabilisieren, ohne eine Erschöpfung ihrer Währungsreserven zu riskieren.12 Angestrebt wurde eine Art Alternative zum Internationalen Währungsfonds (IWF), was jedoch bis heute nicht einmal ansatzweise erreicht wurde. Zudem steht bereits die Grundkonstruktion des CRA der eigentlich angestrebten De-Dollarisierung entgegen. Denn da die BRICS-Staaten starke Handelsverflechtungen mit dem Dollar-Block haben, beruht der Währungsstabilisierungsmechanismus des CRA auf dem US-Dollar.13

Die währungspolitische Unklarheit liegt offen zu Tage und wird auch nicht durch Überlegungen verringert, den CRA-Mechanismus von US-Dollar auf Gold umzustellen, um so den Einstieg in eine gemeinsame goldgedeckte Währung einzuleiten. Wieso sollte China, welches die weltweite Verwendung des Renminbi voranbringen will, einem derartigen Ansinnen zustimmen und sich durch eine Goldwährung selbst geldpolitische Beschränkungen auferlegen?

In der BRICS-Abschlußerklärung von Johannesburg vom August 2023 finden sich zu einer goldgedeckten BRICS-Gemeinschaftswährung entsprechend keine Ausführungen. Stattdessen heißt es unter dem Punkt 45:

“We task our Finance Ministers and/or Central Bank Governors, as appropriate, to consider the issue of local currencies, payment instruments and platforms and report back to us by the next Summit.”

Russland hat im Vorfeld des Gipfels von Kazan im Oktober 2024 versucht, für ein von Russland konzipiertes Clearing-and-Settlement-System namens „BRICS Bridge Payment System“ zu werben. Der russische Vorschlag für ein neues Zahlungssystem basierte auf einem Netzwerk von Geschäftsbanken, die über die Zentralbanken der BRICS-Staaten miteinander verbunden sind. Das System würde die Blockchain-Technologie nutzen, um digitale Token zu speichern und zu übertragen, die durch nationale Währungen gesichert sind. Dies wiederum würde es ermöglichen, diese Währungen einfach und sicher umzutauschen und so die Notwendigkeit von Dollar-Transaktionen zu umgehen. Russland sieht darin eine Möglichkeit, die zunehmenden Probleme bei der Abwicklung von Handelszahlungen zu lösen, selbst mit befreundeten Ländern wie China, wo die lokalen Banken befürchten, dass sie von sekundären Sanktionen der Vereinigten Staaten betroffen sein könnten. Jaroslaw Lissowolik, Gründer der Denkfabrik BRICS+ Analytics, gestand jedoch ein, daß die Schaffung eines solchen Systems zwar technisch machbar sei, aber Zeit brauchen werde.

Zu einem vorbereitenden Treffen in Russland 14 Tage vor dem BRICS-Gipfel in Kazan reisten aber keine Finanzminister oder Zentralbankchefs der anderen BRICS-Staaten an, weshalb der russische Vorschlag bereits im Vorfeld ausgebremst wurde. In Kazan selbst wurden dann auch keine währungspolitischen Klärungen beschlossen.

Die währungspolitischen Unklarheiten spiegeln zwar nicht ausschließlich, aber vornehmlich die ambivalente Interessenlage Chinas wider. Aufgrund seiner Exportorientierung ist China fest in das globale Dollarsystem eingebunden. Ein schneller und vollständiger Rückzug Chinas aus dem globalen Dollarsystem wäre mit erheblichen Schäden der chinesischen Volkswirtschaft verbunden,14 die wohl deutlich die Schäden durch die Coronakrise übersteigen dürften.

Andererseits möchte China erklärtermaßen, daß der Renminbi größere globale Bedeutung gewinnt und hat zu diesem Zweck unter anderem mit dem von internationalen Finanzsanktionen betroffenen Iran Ölexporte gegen Renminbi vereinbart. Da wichtige erdölexportierenden Länder den BRICS+ angehören, könnte die Verwendung des Renminbi als Zahlungsmittel durchaus ansteigen, falls die BRICS+ ihren Ölhandel untereinander als auch mit ihren Handelspartnern nur in Renminbi tätigen sollten. Das setzt jedoch die vollständige Konvertibilität des Renminbi voraus. Denn was soll ein Land mit nicht-konvertiblen Renminbi anfangen? Ausschließlich Waren aus China kaufen?

Zwar könnten die BRICS+ eine Art Transfer-Rubel-System auf Renminbi-Basis wie im früheren Warschauer Pakt installieren, die negativen ökonomischen Folgen eines derartigen Zahlungs- und Verrechnungssystems müßten aber eigentlich abschreckend genug wirken.

Darüber hinaus dürfte sich Indien, das seine Öllieferungen aus Russland zur Zeit in Rupien bezahlen darf, die Frage stellen, weshalb der Handel denn in Renminbi abgewickelt werden soll und nicht in Rupien. Und wieso soll man überhaupt Renminbi verwenden, um eine De-Dollarisierung zu bewirken, wenn China selbst an seiner Einbindung im globalen Dollarsystem festhält?

Im Falle von weitreichenden Finanzsanktionen,15 die ein Land aus dem US-Dollar-System ausschließen, hält China sehr wohl einen Vorteil parat. Sein digitaler Renminbi (eRMB) könnte, ohne daß ein von SWIFT unabhängiges System von Clearing und Settlement aufgebaut werden müßte, unter Umständen die Wirkung von Finanzsanktionen teilweise unterlaufen. Aber auch in einem solchen Fall stellt sich sofort die Frage, was man mit eRMB anfängt, wenn die Konvertibilität des Renminbi nicht gegeben ist. Innerhalb eines Kreises von Staaten, die von Finanzsanktionen betroffen sind, könnte der eRMB zwar vermehrte Verwendung finden; um jedoch über diesen Kreis hinaus vermehrt verwendet zu werden, müßte zumindest Konvertibilität hergestellt werden. Darüber hinaus ist der eRMB keine auf einem distributed ledger beruhende und sich selbstverwaltende Kryptowährung, sondern basiert auf einen centralized ledger und kann deshalb per Knopfdruck von der chinesischen Zentralbank abgeschaltet werden. Daraus ergeben sich weitere Abhängigkeiten von China.

Insgesamt führen die höchst unterschiedlichen Interessenlagen der BRICS-Mitgliedsländer und insbesondere die höchst ambivalente Interessenverfolgung von China derzeit dazu, daß die BRICS+ vorerst nicht in der Lage sein dürften, die Bedeutung des US-Dollar erheblich zu schwächen. Das heißt nicht, daß die Bedeutung des US-Dollar in der Zukunft nicht aus anderen Gründen sinken kann. Das derzeit wahrscheinlichste Szenario besteht jedoch in der weiter fortbestehenden US-Dollar-Dominanz.16

Bis auf weiteres gilt:

  1. Der US-Dollar ist frei konvertibel.
  2. Mit SWIFT gibt es ein effizientes internationalen Zahlungssystem.
  3. Die amerikanischen Finanzmärkte sind die tiefsten und breitesten der Welt.
  4. In den USA gibt es Rechtssicherheit und
  5. die Federal Reserve erfüllt im Großen und Ganzen ihre gesetzliche Aufgabe, für Wertstabilität der Währung zu sorgen.

Kein Land der BRICS+, auch China nicht, noch die Ländergruppe insgesamt kann dem US-Dollar in dieser Hinsicht derzeit auch nur annähernd das Wasser reichen.

Und nicht genug betont werden kann, daß die US-Dollar-Dominanz, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte, nicht allein auf dem System von Bretton Woods beruhte, sondern nur deshalb dauerhaft akzeptiert wurde, weil die USA durch den Marshallplan einerseits und durch freien Handel andererseits Wohlstandsvorteile mit anderen Nationen teilten. Ohne diese Vorteile für viele Nationen hätte der US-Dollar seine Rolle nicht behaupten können. Der US-Dollar behauptete seine Rolle als Weltreservewährung selbst dann, nachdem Richard Nixon 1971 verkündet hatte, daß die USA keine US-Dollar mehr in Gold umtauschen werden und so den Gold-Dollar-Standard beendete. Das sogenannte „exorbitante Privileg“ der USA beruht letztlich auf diesen weltweit verteilten Vorteilen für andere, die den Dollar oder in Dollar denominierte Anleihen aufgrund eigener Vorteile kaufen und nicht um den USA einen Gefallen zu tun. Erst wenn diese Vorteile nicht mehr die Nachteile überwiegen, schwindet das exorbitante Privileg der USA.

Auf BRICS+ und China übertragen heißt das: Erst wenn es den BRICS+ gelingt, ausreichende ökonomische Vorteile für andere Nationen weltweit glaubwürdig und dauerhaft zu schaffen, besteht eine Chance, daß der US-Dollar weltweit weniger Verwendung findet oder gar seine Dominanz gebrochen werden kann. Darüber hinaus müßte China bereit sein, Wohlstandsvorteile mit anderen Nationen zu teilen. Ersteres ist aufgrund der erhöhten Konfliktpotentiale, welche die BRICS-Erweiterung mit sich bringt,17 letzteres ist aufgrund Chinas maßlosem Hegemonialstrebens sehr unwahrscheinlich. China will nicht Kooperation zum gegenseitigen Vorteil. China will Hegemonie. Und die Goldpreisentwicklung läßt vermuten, daß irgendetwas im Busche ist.

III.

Bei einem Angriff auf das exorbitante Privileg des Dollar sollte nicht damit gerechnet werden, daß die USA einem derartigen Angriff tatenlos zusehen werden. Anfang der 1970er Jahre hatten die USA bewiesen, daß sie innerhalb von wenigen Tagen zu einer Geldreform in der Lage sind. Heute können die Möglichkeiten der Digitalisierung und die Distributed Ledger Technology für eine Geldreform genutzt werden. Und die früheren Berührungsängste zwischen Silicon Valley und US-Regierung gibt es heute auch nicht mehr. Daß die USA, wenn ihr exorbitantes Privileg des Dollar von China und Russland angegriffen werden sollte, einen digitalen Dollar nach dem Modell eines digitalen Euro der EZB aufstellen und damit das derzeitige dysfunktionale Geldsystem nur digital kopieren, ist in einer Währungskriegssituation unwahrscheinlich.

Und daß sich Europa von einer Geldreform in den USA abkoppeln kann, ist auszuschließen. Vielleicht könnte gerade eine Geldreform in den USA dazu führen, daß sowohl die USA als auch Europa die ökonomischen Problemverschleppungen der letzten Jahrzehnte beenden bzw. beenden müssen und so zu neuem Produktivitätswachstum finden. Die größten Feinde des Westens sind nicht China, Russland und die BRICS+. Die größten Feinde des Westens sind die horrende Staatsverschuldung, die Produktivitäts- und Investitionsschwäche und die schleichende Kapitalaufzehrung.

Ceterum censeo: Der Dreh- und Angelpunkt sind die Staatsschulden. Die Staatsschulden müssen reduziert und unsere monetäre und fiskalische Ordnung muß neu aufgestellt werden. Der Westen benötigt eine Art neues „Bretton Woods“, - eine Neuaufstellung unserer Währungs-, Geld- und Schuldenordnung: Dem sogenannten Chicago-Plan von 1933 folgend18 sollten die Zentralbanken der westlichen Staaten erstens die Staatsschulden ihrer jeweiligen Länder auf ihre Bilanz nehmen und zweitens den Bürgern sichere Bankeinlagen durch Volldeckung mit Zentralbankgeld ermöglichen sowie digitales Zentralbankgeld als Vollgeld schaffen,19 durch den politische Manipulationen des Zinses erschwert werden. Darüber hinaus muß drittens durch die Zulassung von konkurrierenden Privatwährungen20 „marktwirtschaftlicher Abwanderungsdruck“ auf- und ausgebaut werden, welche die westlichen Währungen durch die praktische Möglichkeit, aus ihnen abzuwandern, stabilisiert.21

Obwohl es im Moment utopisch erscheint, daß sich die westlichen Staaten in einer neuen Bretton Woods Konferenz auf eine neue Währungs-, Geld- und Schuldenordnung einigen, könnte der politische Druck, sich dieser Herausforderung zu stellen, aufgrund geopolitischer Krisen und neuer Kriege schneller wachsen als gewünscht. Der neue Ost-West-Konflikt macht eine Stärkung der ökonomischen Grundlagen des Westens erforderlich. Die größten Feinde des Westens sind nicht China, Russland und die BRICS+, sondern die horrende Staatsverschuldung, die Produktivitäts- und Investitionsschwäche und die schleichende Kapitalaufzehrung. Diese Feinde müssen bekämpft werden. Es können in der derzeitigen weltpolitischen Lage schnell Situationen eintreten, in denen gerade die skizzierte Alternative gewählt werden muß, weil sie ein schnelles und entschlossenes Handeln ermöglicht und weil schrittweise Entschuldungen bisher verfehlt wurden oder nicht mehr möglich sind. Auch Bretton Woods ist 1944 nicht vom Himmel gefallen. Aber Bretton Woods hat bereits 1944 die Weichen für Geopolitik, Staatsschulden und Finanzmärkte nach 1945 neu gestellt.


1 Siehe dazu Norbert F. Tofall: US-Dollar, BRICS+ und China. Ist eine De-Dollarisierung der Weltwirtschaft wahrscheinlich? Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 2. Oktober 2023 sowie John M. T. Ryan: „Will Geopolitics Accelerate China‘s Drive Towards De-Dollarization?, in: The Economists’ Voice, July 2024.

2 Siehe beispielsweise Edward Gibbon: Verfall und Untergang des römischen Imperiums, (englische Originalausgabe 1776-1789), 6 Bände, München 2004; Mancur Olson: Aufstieg und Niedergang von Nationen. Ökonomisches Wachstum, Stagflation und soziale Starrheit, (amerikanische Originalausgabe 1982),übersetzt von Gerd Fleischmann, 2., durchgesehene Auflage, Tübingen 1991; Paul Kennedy: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, (amerikanische Originalausgabe von 1987), aus dem Englischen von Catharina Jurisch, Frankfurt a. M. 1989; Peter Heather: Der Untergang des Römischen Weltreiches, (englische Originalausgabe von 2005), deutsch von Klaus Kochmann, 5. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2021; Daron Acemoglu and James A. Robinson: Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, (amerikanische Originalausgabe von 2012), aus dem Englischen von Bernd Rullkötter, 3. Auflage, Frankfurt a. M. 2015.

3 Siehe Peter Heather und John Rapley: Stürzende Imperien. Rom, Amerika und die Zukunft des Westens, (englische Originalausgabe von 2023), aus dem Englischen von Peter Andresen, 2. Auflage, Stuttgart 2024.

4 Vgl. zum gesamten Absatz, ebenda, S. 231.

5 Vgl. ebenda, S. 231-232.

6 Vgl. zum gesamten Absatz, ebenda, S. 232-233.

7 Vgl. ebenda, S. 233.

8 Vgl. zum gesamten Absatz, ebenda, S. 233-234.

9 Ebenda, S. 234.

10 Siehe https://mea.gov.in/bilateral-documents.htm?dtl/37030/15th+BRICS+Summit+Johannesburg+II+Declaration oder https://www.thepresidency.gov.za/content/xv-brics-summit-johannesburg-ii-declaration-24-august-2023

11 Siehe http://static.kremlin.ru/media/events/files/en/RosOySvLzGaJtmx2wYFv0lN4NSPZploG.pdf

12 Siehe „Treaty for the Establishment of a BRICS Coningent Reserve Arrangement”, July 2014, online: http://www.brics.utoronto.ca/docs/140715-treaty.html

13 Ebenda.

14 Vgl. Steffen Murau: „Konkurrenz für den Dollar?“, in: ipg-online vom 21. August 2023, online:

https://www.ipg-journal.de/rubriken/wirtschaft-und-oekologie/artikel/konkurrenz-fuer-den-dollar-6929/?utm_campaign=de_40_20230822&utm_medium=email&utm_source=newsletter

15 Siehe zur Frage, ob Sanktionen und geopolitische Risiken die U.S.-Dollar-Dominanz beenden könnten, Colin Weiss: Geopolitics and the U.S. Dollar’s Future as a Reserve Currency, Board of Governors of the Federal Reserve System, International Finance Discussion Papers, Number 1359, October 2022, p. 25: “Although the sanctions imposed on Russia’ FX reserves by the U.S. and its allies may have increased the salience of sanctions risk, I find that geopolitics alone are unlikely to end the U.S. dollar’s dominance as a reserve currency. Most government holdings of U.S. assets belong to those with close military ties to the U.S. and countries without these ties have strong economic incentives to hold dollar-denominated reserves. Even a geopolitically-motivated move away from the U.S. dollar in trade invoicing would only diminish the dollar’s role as a reserve currency and not destroy it.”

16 Siehe auch Steffen Murau, Joe Rini and Armin Haas: „The evolution of the Offshore US-Dollar System: past, present and four possible futures”, in: Journal of Institutional Economics (2020), 16, p. 767-783, p. 776.

17 Siehe Norbert F. Tofall: G20, BRICS+ und China. Globale ökonomische und politische Minenfelder, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 11. September 2023.

18 Siehe Irving Fisher: 100% Money and the Public Debt, Economic Forum April-June 1936, pp. 406-420 sowie Jaromir Benes and Michael Kumhof: The Chicago Plan Revisted, IMF-Working Paper, WP/12/202, August 2012. Zu den Befürwortern einer 100-Prozent-Reservepflicht für Geschäftsbanken gehörte neben Irving Fisher auch Milton Friedman, siehe Milton Friedman: A Program for Monetary Stability, Band 3: The Millar Lectures, New York (Fordham University Press) 1961.

19 Siehe Thomas Mayer: Ein digitaler Euro zur Rettung der EWU, Studie des Flossbach von Storch Research Institute vom 24. Oktober 2019 und Thomas Mayer: Das Inflationsgespenst, Salzburg (Ecowin) 2022.

20 Siehe Friedrich A. von Hayek: Entnationalisierung des Geldes. Eine Analyse der Theorie und Praxis konkurrierender Umlaufmittel, Tübingen (Mohr) 1977

21 Siehe bereits Frank Schäffler und Norbert F. Tofall: „Euro-Stabilität durch konkurrierende Privatwährungen“, in: Dirk Meyer (Hg.): Die Zukunft der Währungsunion. Chancen und Risiken des Euros, mit Beiträgen von Helmut Schmidt, Václav Klaus, Arnulf Baring, Roland Vaubel, Wolf Schäfer, Hans-Olaf Henkel, Charles B. Blankart und anderen, Berlin (LIT) 2012, S. 275 – 288 sowie Norbert F. Tofall: Währungsverfassungsfragen sind Freiheitsfragen. Mit Kryptowährungen zu einer marktwirtschaftlichen Geldordnung?, Studie zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 15. Januar 2018.

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