Ein Gespenst geht um in Deutschland: das große Unbehagen über die Leistungsfähigkeit von Staat und Wirtschaft. Die Ursache ist schwindende Produktivität. Ohne eine öffentliche Debatte über diese Ursache lässt sich das Gespenst nicht vertreiben. Doch die Debatte wird von verbohrten Ideologen und mit ihnen verbundenen Wirtschaftsinteressen blockiert.
Wer Produktivität am Werk erleben möchte, sollte sich mal auf einem Waldspaziergang ansehen, wie heute Holz gefällt wird. Ein „Harvester“ packt die Bäume mit stählernem Griff, sägt sie um und zieht ihnen mit eisernen Zähnen die Äste ab. Die Maschine wird von einem einzigen Waldarbeiter gesteuert und kann bis zu dreißig Festmeter Holz pro Stunde verarbeiten. Das ist ungefähr zehnmal so viel wie mit Handarbeit. Oder man kann im Freiland beobachten, wie ein Landarbeiter mit einer von einem Traktor gezogenen Presse scheinbar mühelos das auf einer Wiese liegende Heu in Ballen mit einem Gewicht von bis zu 400 Kilogramm verwandelt. Früher rechte eine ganze Bauernfamilie das Heu zusammen, lud es auf von Pferden oder Kühen gezogene Wagen und fuhr es im Schritttempo zur Scheune. Wer Produktivität lieber innen am Werk sehen möchte, sollte sich mal in einer Fabrikhalle ansehen, wie Roboter Autokarosserien am Fließband zusammenschweißen. Heute ist ungefähr jeder siebte Automobilarbeiter ein Roboter.
Ohne diese atemberaubenden Produktivitätssteigerungen in Landwirtschaft und Industrie hätten wir unseren heutigen Wohlstand nicht erreichen können. Die in diesen Wirtschaftsbereichen freiwerdenden Arbeitskräfte konnten andere Tätigkeiten übernehmen, in denen sie Dienstleistungen vom Kellnern bis zur medizinischen Behandlung erbringen. Heute arbeiten rund drei Viertel aller Erwerbstätigen in Deutschland im Dienstleistungsbereich, während die Anteile der Bauern und Industriebeschäftigten auf gut ein Prozent und knapp 18 Prozent gefallen sind. Neunzehn Prozent der Beschäftigten versorgen also 75 Prozent mit Nahrungsmitteln und Gütern, und weitere knapp sechs Prozent der Beschäftigten stellen ihnen die nötigen Bauten her.
Doch die großen Produktivitätssprünge in Landwirtschaft und Industrie sind vorbei. Es geht dort zwar weiter, aber mit verringerter Geschwindigkeit. Soll der Wohlstand auch künftig wachsen, müsste nun die Produktivität im Dienstleistungsbereich steigen. Durch die Digitalisierung ist dies zwar technisch möglich, doch bei der Umsetzung hapert es. Und dies gilt vor allem für Deutschland. Seit beinahe sechs Jahren geht bei uns die Produktivität (die reale Wertschöpfung je Beschäftigten) zurück (siehe Grafik). Zuletzt lag sie nur 10 Prozent über dem Stand von 2000, während sie im gleichen Zeitraum in den USA um 31 Prozent gewachsen ist.
Dabei wäre ein Produktivitätsanstieg dringend nötig, damit die steigende Zahl von Rentnern mit immer weniger Erwerbstätigen versorgt werden kann, das Gesundheitssystem und die Staatsfinanzen stabilisiert werden können, die Inflation verringert und der Klimawandel bewältigt werden kann. Ohne Produktivitätswachstum lassen sich diese Probleme nicht bewältigen, sondern Wirtschaft und Gesellschaft werden von ihnen in einen Abwärtsstrudel gezogen. Mit dem „Land, in dem wir gut und gerne Leben“ wäre es vorbei.
Vor diesem düsteren Hintergrund erscheint der gegenwärtige Siegeszug der künstlichen Intelligenz wie ein Gottesgeschenk. Mit ihr könnte die Produktivität im Dienstleistungsbereich gewaltig steigen. KI eignet sich zur Analyse von Daten, der Schaffung neuer Inhalt und der Kommunikation mit Menschen. Im Gesundheitssektor können Diagnosen und personalisierte Therapievorschläge erstellt und Patienten beraten werden. Im Medienbereich kann KI Nachrichten sammeln, auswerten und berichten. KI kann ganze Radiosender betreiben. In der öffentlichen Verwaltung kann KI Daten analysieren und Verwaltungsakte vielerlei Art erledigen - zum Beispiel Steuererklärungen prüfen und Steuerbescheide erstellen. In Rechtsangelegenheiten kann KI bei der Rechtsfindung und Rechtsprechung umfassende Hilfe leisten. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
Die Entwicklung von künstlicher Intelligenz wird vor allem von amerikanischen Firmen vorangetrieben. OpenAI, das zum Teil der Firma Microsoft gehört, hat zum Beispiel das „Large Language Model“ ChatGPT entwickelt, das seit Ende letzten Jahres weltweit Furore macht. Dagegen scheint in der Europäischen Union statt der Entwicklung die Regulierung von künstlicher Intelligenz im Vordergrund zu stehen. Seit über fünf Jahren arbeitet die EU-Kommission daran, Regeln aufzustellen, die den „globalen Goldstandard“ in der Regulierung von KI werden sollen. Heißt es heute (manchmal zynisch), die Amerikaner „können Daten“, die Europäer dagegen „den Datenschutz“, könnte es bald heißen, „die Amerikaner können KI, die Europäer dagegen KI-Regulierung“. Dabei führt die Überregulierung zu einer Überbürokratie, die für das Kernproblem Europas, die abnehmende Produktivität, wesentlich verantwortlich ist.
Warum, so fragt sich der verdutzte Beobachter, wird dieses Kernproblem kaum thematisiert? Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die öffentliche Aufmerksamkeit, die sich meist nur mit einem zentralen Thema länger beschäftigen kann, von den Aktivisten der Klimapolitik gekapert wurde. Der Klimawandel wurde von einer politisierten Wissenschaft zur Existenzfrage für die Menschheit erhoben und von der unter dem Asperger-Syndrom leidenden (und damit für angstschürende Narrative besonders empfänglichen) fünfzehnjährigen Schülerin Greta Thunberg im Jahr 2018 zu einer weltweiten Jugendbewegung entwickelt.
Führende Politiker griffen die immer stärker werdende gesellschaftliche Strömung in der Erwartung auf, daraus Wählerstimmen gewinnen zu können. In der Wechselwirkung zwischen den sich gleichermaßen auf die Wissenschaft berufenden Klimaaktivisten und Politkern entstand eine Erzählung der Klimaapokalypse, die alle anderen Probleme übertrumpfte. Denn was gilt schon der durch eine mutwillig herbeigeführte De-industrialisierung ausgelöste wirtschaftliche Abstieg, wenn bald der „Klima-Tod“ droht?
Vergleicht man die heutige wirtschaftliche Misere mit den Wirtschaftskrisen Anfang der 1980er und 2000er Jahre, sticht heraus, dass die früheren Krisen die öffentliche Debatte so stark dominierten, dass sich daraus politische Handlungszwänge ergaben. Die „Stagflation“ der 1970er und Rezession der frühen 1980er Jahre führten zu harter Geldpolitik und wirtschaftlicher Angebotspolitik. Der Abstieg Deutschlands zum „kranken Mann Europas“ bereitete den Weg für die „Agenda 2010“ der Regierung Gerhard Schröders. Der durch intensive gesellschaftliche Debatte erzwungene Politikwechsel führte in beiden Fällen zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Erholung.
Dagegen wird heute bei einer vergleichbaren Wirtschaftskrise von den politischen Eliten und etablierten Medien die „Klimakatastrophe“ statt der Wirtschaftskrise thematisiert. Die Mehrheit der Bevölkerung leidet dadurch unter „kognitiver Dissonanz“, da die Wahrnehmung der sie unmittelbar betreffenden Probleme von dem durch Politik und Medien vermittelten Problem gravierend abweicht. Die Folge davon sind Politikverdrossenheit und die Zuflucht zu „Protestparteien“.
Nötig wäre die Fokussierung der öffentlichen Debatte auf die Produktivitätsschwäche und ihre Gründe. Daraus würden sich politische Handlungszwänge zum Bürokratieabbau und der Stärkung des technischen Fortschritts – vor allem im Bereich der künstlichen Intelligenz – ergeben. Aus der Debatte würde klarer werden, dass die Steigerung der Produktivität der Schlüssel für die Lösung der meisten Probleme ist, die von der Bevölkerungsmehrheit gegenwärtig als drückend empfunden werden. Mit der ehrlichen Diagnose der „Krankheit“, Formulierung der Therapie und Perspektive für Besserung würde sich die kognitive Dissonanz der Wähler wahrscheinlich lösen und die Flucht in Protestparteien wäre vorbei.
Doch die Debatte wird von verbohrten Klimaideologen und in den „Klimaschutz“ investierten Wirtschaftsinteressen blockiert. Solange diese Blockade nicht durch entschlossene Politik gebrochen wird, gehen der Aufstieg der Protestparteien und der wirtschaftliche Abstieg weiter.
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