Der im Vertrag von Amsterdam 1997 beschlossene Stabilitäts- und Wachstumspakt sollte auf der Grundlage der Maastrichter Kriterien die Budgetdisziplin der Mitgliedsstaaten der Europäischen Währungsunion sichern, konnte die europäische Staatsschuldenkrise von 2010 bis 2012 aber nicht verhindern. Viele Euro-Mitgliedsländer und insbesondere Griechenland und Italien hatten die vertraglich vereinbarten Budgetregeln einfach nicht eingehalten. Die Risikoaufschläge für griechische und italienische Staatsanleihen schossen in die Höhe. Der Bestand der Europäischen Währungsunion stand auf der Kippe.
Um den Euro zu retten – oder genauer: um zu verhindern, daß einzelne Länder aus der Europäischen Währungsunion ausscheiden –, wurden die sogenannten Euro-Rettungspakte Griechenlandhilfe, EFSF und ESM entgegen der No-Bailout-Klausel in den europäischen Verträgen beschlossen. Als „Kompromiß“ für diesen Regelbruch und zur Vermeidung zukünftiger Eurokrisen wurden nicht nur der europäischen Fiskalpakt vom 2. März 2012 und die Einführung von nationalen Schuldenbremsen vertraglich vereinbart. Nach ersten Verschärfungen im Jahr 2011 erließen das Europäische Parlament und der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs am 21. Mai 2013 auch die Verordnung Nr. 473/2013 „über gemeinsame Bestimmungen für die Überwachung und Bewertung der Übersichten über die Haushaltsplanung und für die Gewährleistung der Korrektur übermäßiger Defizite der Mitgliedstaaten der Euro-Währungsunion,“1 mit welcher der Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 7. Juli 1997 verschärft wurde.
Am 23. Oktober 2018 wendete die EU-Kommission dann erstmals den Artikel 7 Abs. 2 dieser Verordnung an und wies den von Italien vorgelegten Haushaltsentwurf für das Jahr 2019 zurück. Italien drohte die Einleitung eines Defizitverfahrens nach Art. 126 Abs. 9 und Abs. 11 AEUV. Italien hatte bis zum 13. November 2018 Zeit, einen neuen Haushaltsentwurf vorzulegen, ließ diese Frist aber verstreichen. Stattdessen spielte die italienische Regierung ein sehr erfolgreiches Erpressungsspiel. Italien spekulierte erfolgreich darauf, daß die EU-Kommission, die anderen Euro-Mitgliedsländer und vor allem die Europäische Zentralbank ein ungeordnetes Auseinanderbrechen der Währungsunion verhindern wollten und sich deshalb keine entsprechenden Mehrheiten im Rat der Europäischen Union und im EZB-Rat zur wirksamen Sanktionierung von Italien bilden würden.2
Im Verlauf des Dezember 2018 schlug die italienische Regierung angesichts des drohenden Defizitverfahrens dann neben anderen kosmetischen Korrekturen eine geringere geplante Neuverschuldung von „2,04“ Prozent anstelle der geplanten „2,4“ Prozent vor. Die EU-Kommission akzeptierte diesen Kompromißvorschlag, so daß kurz vor Weihnachten 2018 die italienische Regierung die erste Runde in ihrem Erpressungsspiel gewonnen hatte. Die Verschuldungsregeln der Europäischen Währungsunion waren ab 2019 de facto außer Kraft gesetzt und das mit dem Segen der EU-Kommission.3
Zwar hat laut europäischem Fiskalpakt von 2012 der gesamtstaatliche Haushalt einer Vertragspartei ausgeglichen zu sein oder einen Überschuß auszuweisen. Allerdings dürfen die Vertragsparteien bei außergewöhnlichen Umständen vorübergehend von diesem Ziel oder dem dorthin führenden Anpassungspfad abweichen. Die Corona-Krise seit 2020 fiel zweifelsohne unter diese Ausnahmeregelung, so daß die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und des europäischen Fiskalpaktes seit 2020 rechtmäßig außer Kraft gesetzt wurden. Ab Januar 2023 sollen diese Regeln de jure aber wieder gelten – zumindest nach derzeitigem Entscheidungsstand. Angesichts der Verschuldungslage der meisten Euro-Mitgliedsländer, die sich erst durch die Corona-Krise und jetzt durch die Folgen des Ukraine-Kriegs weiter verschärft hat, dürfte es jedoch fraglich sein, ob diese Regeln nicht früher oder später auch de jure weiterhin außer Kraft gesetzt werden dürften, zumal sie de facto bereits in der Vergangenheit von vielen Euro-Mitgliedsländern nicht eingehalten wurden. Das heißt aber auch, daß eine Schuldenbegrenzung in der EU und insbesondere in der Eurozone im Rahmen der derzeitigen Regeln auf absehbare Zeit purem Wunschdenken entsprechen dürfte.
Am 9. November 2022 hat nun die Europäische Kommission Vorschläge für eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes vorgelegt.4 Diese Orientierungen mit dem Titel „Building an economic governance framework fit for the challenges ahead“ sollen laut EU-Kommission sicherstellen, daß der „Rahmen“ einfacher, transparenter und wirksamer wird, mit mehr nationaler Eigenverantwortung und besserer Durchsetzung, während er gleichzeitig Reformen und Investitionen ermöglicht und die hohen öffentlichen Schuldenquoten auf realistische, schrittweise und nachhaltige Weise reduziert. Auf diese Weise solle der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt dazu beitragen, die grüne, digitale und widerstandsfähige Wirtschaft der Zukunft aufzubauen. Gleichzeitig solle die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen in allen Mitgliedstaaten gewährleisten werden.5
Bereits beim ersten Lesen dieser Ziele fragt sich der Leser unwillkürlich, ob die Eier legende Wollmilchsau im Vergleich zu diesen Zielen nicht ein sehr bescheidenes Tierchen ist. Und jedem nur halbwegs mit dem Politikbetrieb in Kontakt gekommenen Zeitgenossen schwant, daß hier hinter großen Worten nicht eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in Werk gesetzt werden soll, sondern seine weitere Aushebelung.
In den „Orientierungen“ der EU-Kommission vom 9. November 2022 heißt es weiter, daß man zu einem transparenten, risikobasierten EU-Überwachungsrahmen übergehen wolle, der zwischen den einzelnen Ländern differenziert, indem er ihre Probleme mit der öffentlichen Verschuldung berücksichtige. Nationale mittelfristige Finanz- und Strukturpläne seien der Eckpfeiler des von der Kommission vorgeschlagenen Rahmens. Sie würden die Haushalts-, Reform- und Investitionsziele, einschließlich der Ziele zur Beseitigung makroökonomischer Ungleichgewichte, in einen einzigen ganzheitlichen mittelfristigen Plan integrieren und so einen kohärenten und straffen Prozess schaffen. Die Mitgliedstaaten hätten einen größeren Spielraum bei der Festlegung ihres fiskalischen Anpassungspfads, wodurch die nationale Eigenverantwortung für ihre fiskalischen Zielsetzungen gestärkt würde.6
Ein einziger operativer Indikator – die Netto-Primärausgaben, d.h. die Ausgaben, die unter der Kontrolle einer Regierung stehen – würde als Grundlage für die Festlegung des finanzpolitischen Anpassungspfads und die jährliche finanzpolitische Überwachung dienen, wodurch der Rahmen erheblich vereinfacht würde.7
Leider wird an dieser Stelle nicht problematisiert, daß hier ein Anreiz für Regierungen formuliert wird, möglichst viele Staatsausgaben als nicht unter der eigenen Kontrolle stehend zu definieren. Und da mit jedem einzelnen Land diese Frage erörtert werden soll, dürfte die Regierung jedes Landes schnell viele Argumente finden, weshalb die jeweilige nationale fiskalische Lage eigentlich nichts oder nur sehr wenig mit dem eigenen Regierungshandeln zu tun hat.
Die EU-Kommission schlägt dann vier Schritte zur Umsetzung vor:8
Mit diesem Verfahren würde laut EU-Kommission den Mitgliedstaaten mehr Spielraum für die Gestaltung ihrer Haushaltspläne eingeräumt werden. Gleichzeitig will die EU-Kommission aber auch strengere EU-Durchsetzungsinstrumente einführen, um die Umsetzung zu gewährleisten. Das defizitbasierte Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (VÜD) würde beibehalten, während das schuldenbasierte VÜD verstärkt würde. Es würde aktiviert werden, wenn ein Mitgliedstaat mit einem Schuldenstand von über 60% des BIP vom vereinbarten Ausgabenpfad abweiche.9
Die Durchsetzungsmechanismen würden gestärkt: Die finanziellen Sanktionen würden durch eine Senkung ihrer Beträge wirksamer gemacht. Auch die Reputationsstrafen würden verschärft. Die makroökonomische Konditionalität für die Strukturfonds und die Fazilität für Konjunkturbelebung und Widerstandsfähigkeit würde in ähnlichem Sinne angewandt, d. h. die EU-Finanzierung könnte auch ausgesetzt werden, wenn die Mitgliedstaaten keine wirksamen Maßnahmen zur Korrektur ihres übermäßigen Defizits ergriffen haben.10
Darüber hinaus würde ein neues Instrument die Umsetzung von Reform- und Investitionsverpflichtungen sicherstellen, die einen längeren Anpassungspfad untermauern. Werden die Reform- und Investitionsverpflichtungen nicht umgesetzt, könnte dies zu einem restriktiveren Anpassungspfad und für die Mitgliedstaaten des Euroraums zur Verhängung von finanziellen Sanktionen führen.11
Nicht problematisiert wird an dieser Stelle, wieso strengere EU-Durchsetzungsinstrumente wirksam sein sollen, während man bereits jetzt auf die Anwendung der weniger strengeren Sanktionen verzichtet hat. Zudem dürften die individuell ausgehandelten Maßnahmen und 4- bis 7-Jahrespläne zum Defizitabbau sehr große Interpretationsspielräume bieten, um nicht sanktionierend handeln zu müssen. Und es wird nicht ansatzweise ausgeführt, wie man ein Erpressungsspiel wie das von Italien in den Jahren 2018 und 2019 verhindern will.
Insgesamt muß deshalb bezweifelt werden, daß mit den „Orientierungen“ der EU-Kommission ein Beitrag zum Schuldenabbau in der Eurozone geleistet wird. Vielmehr scheinen sogar weitere Möglichkeiten für höhere Schuldenstände kreiert zu werden. Die europäischen Fiskalpolitiken könnten deshalb noch weiter in einen Widerspruch zur notwendigen Inflationsbekämpfung in der Eurozone geraten.
Eine schnelle und wirksame Inflationsbekämpfung ist im Euroraum nur möglich, wenn vorab die Eurostaaten schnell entschuldet werden.12 Deshalb dürfte eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, welche die Entschuldung weiter streckt und letztlich aushebelt, inflationsfördernd wirken.
Da die schrittweise Entschuldung der Eurozone, wie sie durch die Regeln des europäischen Fiskalpaktes angestrebt wurde, bereits vor der Corona-Krise gescheitert war, dürfte heute nur eine Entschuldung der Eurozone in einem einzigen Schritt erfolgreich sein. Dieser eine Schritt sollte aus drei gleichzeitig umzusetzenden Elementen bestehen. Dem sogenannten Chicago-Plan von 1933 folgend13 sollte die EZB erstens die Staatsschulden der Euroländer auf ihre Bilanz nehmen und zweitens den Bürgern der Eurozone sichere Bankeinlagen durch Volldeckung mit Zentralbankgeld ermöglichen sowie einen digitalen Euro als Vollgeld schaffen,14 durch den politische Manipulationen des Zinses erschwert werden. Darüber hinaus muß drittens durch die Zulassung von konkurrierenden Privatwährungen15 „marktwirtschaftlicher Abwanderungsdruck“ auf- und ausgebaut werden, welcher den Euro durch die praktische Möglichkeit, aus ihm abzuwandern, stabilisiert.16
Wenn man bedenkt, daß sich die EZB mit ihren Anleihekaufprogrammen de facto bereits seit längerem auf dem Weg befindet, die Staatsschulden der Euroländer auf ihre Bilanz zu nehmen, dann erscheint die skizzierte Vorgehensweise alles andere als utopisch.
Und nach einer Entschuldung der Eurozone in einem Schritt könnte der Stabilitäts- und Wachstumspakt sowohl de jure als auch de facto wieder Wirkung zeigen. Eine aushebelnde Reform hätte sich erledigt.
1 Siehe Amtsblatt der Europäischen Union vom 27.5.2013, L 140/11.
2 Vgl. Norbert F. Tofall: Italiens Haushaltsstreit mit der EU-Kommission. Doch entscheidend ist die EZB, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 25. Oktober 2018, online:https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/italiens-haushaltsstreit-mit-der-eu-kommission/
3 Siehe Norbert F. Tofall: Regelbruch mit Segen der EU-Kommission, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 4. Januar 2019, online: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/regelbruch-mit-segen-der-eu-kommission/
4 Siehe EU-Kommission: Building an economic governance framework fit for the challenges ahead, Pressemitteilung vom 9. November 2022, online: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_6562
5 Vgl. ebenda, im englischen Original: „The orientations seek to ensure that the framework is simpler, more transparent and effective, with greater national ownership and better enforcement, while allowing for reform and investment and reducing high public debt ratios in a realistic, gradual and sustained manner. In this way, the reformed framework should help build the green, digital and resilient economy of the future, while ensuring the sustainability of public finances in all Member States.”
6 Vgl. ebenda.
7 Vgl. ebenda.
8 Vgl. ebenda.
9 Vgl. ebenda.
10 Vgl. ebenda.
11 Vgl. ebenda.
12 Siehe III. und IV. in Norbert F. Tofall: Populismus und Inflation. Oder weshalb der Westen ein neues „Bretton Woods“ benötigt, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 13. Mai 2022, online: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/populismus-und-inflation-oder-weshalb-der-westen-ein-neues-bretton-woods-benoetigt/
13 Siehe Irving Fisher: 100% Money and the Public Debt, Economic Forum April-June 1936, pp. 406-420 sowie Jaromir Benes and Michael Kumhof: The Chicago Plan Revisted, IMF-Working Paper, WP/12/202, August 2012. Zu den Befürwortern einer 100-Prozent-Reservepflicht für Geschäftsbanken gehörte neben Irving Fisher auch Milton Friedman, siehe Milton Friedman: A Program for Monetary Stability, Band 3: The Millar Lectures, New York (Fordham University Press) 1961.
14 Siehe Thomas Mayer: Ein digitaler Euro zur Rettung der EWU, Studie des Flossbach von Storch Research Institute vom 24. Oktober 2019, online abrufbar unter: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/ein-digitaler-euro-zur-rettung-der-ewu/
15 Siehe Friedrich A. von Hayek: Entnationalisierung des Geldes. Eine Analyse der Theorie und Praxis konkurrierender Umlaufmittel, Tübingen (Mohr) 1977
16 Siehe bereits Frank Schäffler und Norbert F. Tofall: „Euro-Stabilität durch konkurrierende Privatwährungen“, in: Dirk Meyer (Hg.): Die Zukunft der Währungsunion. Chancen und Risiken des Euros, mit Beiträgen von Helmut Schmidt, Václav Klaus, Arnulf Baring, Roland Vaubel, Wolf Schäfer, Hans-Olaf Henkel, Charles B. Blankart und anderen, Berlin (LIT) 2012, S. 275 – 288 sowie Norbert F. Tofall: Währungsverfassungsfragen sind Freiheitsfragen. Mit Kryptowährungen zu einer marktwirtschaftlichen Geldordnung?, Studie zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 15. Januar 2018, online abrufbar unter: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/waehrungsverfassungsfragen-sind-freiheitsfragen/
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