In einer Rede zum Festakt der Interkulturellen Woche am 27. September 2015 brachte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck das Dilemma der Asylpolitik auf den Punkt: „Unser Herz ist weit, doch unsere Mittel sind endlich.“ Er könnte diese Rede heute wieder halten, und sie hätte auch zu den Problemen vor einem Jahrhundert gepasst. Damals stieß das Dilemma eine Entwicklung an, die in den Abgrund führte. Wie wohl kaum ein anderer hat Hannah Arendt die Gründe dafür analysiert. Auch wenn heute viele Umstände anders sind, sollten wir aus ihrer Analyse lernen.
Laut Arendt haben Aufklärung und Säkularisierung der Schaffung von „universellen Menschenrechten“ den Weg bereitet. War davor Gott oder der Lauf der Geschichte als Quelle der Rechte betrachtet worden, so kamen sie nun in Menschenhand. Da man ihrer nicht mehr sicher sein konnte, mussten sie von den Menschen selbst bewahrt werden. Menschenrechte wurden zu Rechten von und für Menschen, die immer und überall gelten sollten. Doch die von konkreten Gesellschaftsordnungen abstrahierende Idee war nicht umsetzbar.
Traditionelle Stammesgesellschaften oder Despotien waren mit der Idee der Menschrechte inkompatibel. Dazu brauchte es demokratisch legitimierte Rechtsstaatlichkeit, wie sie nur im modernen Nationalstaat existierte. Es entstand ein Paradoxon: Wo Menschenrechte dringend nötig waren – in den Stammesgesellschaften oder Despotien – konnten sie nicht durchgesetzt werden, und wo sie durchgesetzt werden konnten – im Rechtsstaat – waren sie nicht nötig. Die Idee war nach Arendt folglich nur haltbar, wenn man annahm, dass sich alle Gesellschaftsordnungen zum demokratisch legitimierten Rechtsstaat entwickeln würden. Solange der universelle Rechtsstaat nicht erreicht war, bestand aber die Gefahr, dass Menschen ihrer Menschenrechte beraubt wurden, wenn sie ihre Zugehörigkeit zu ihrem Nationalstaat verloren, der ihnen diese Rechte garantiert hatte.
Der erste Weltkrieg stellte die europäische Ordnung der Nationalstaaten auf den Kopf. Die Inflation zerstörte die untere Mittelschicht, während der Kollaps der österreich-ungarischen Doppelmonarchie und des zaristischen Russlands zusammen mit den Grenzverschiebungen zwischen Ländern der Sieger und Besiegten nationale Minderheiten und staatenlose Menschen schuf. Diese Gruppen hatten den Schutz ihres Nationalstaats verloren und genossen allenfalls Minderheitsrechte oder waren ohne rechtlichen Schutz.
Arendt sieht in der Aberkennung der nationalen Zugehörigkeit ein machtvolles Instrument totalitärer Politik. Damit konnten gewissenlose Politiker Minderheiten die Wertestandards der Mehrheit aufzwingen und bestimmte Minderheiten, wie die Juden, zum Abschaum der Menschheit erklären. Weder Minderheitenverträge noch der Völkerbund halfen. „Der Begriff ‚Menschenrechte‘ selbst wurde für alle Beteiligten - Opfer, Verfolger und Zuschauer gleichermaßen - zum Beweis für hoffnungslosen Idealismus oder schwachsinnige Heuchelei“ (Arendt, S. 352).1
Die Flucht von Minderheiten und Staatenlosen vor Unterdrückung brachte die letzte Bastion der Menschenrechte, das Recht auf Asyl, zum Einsturz. Obwohl sie die Verbindung zu ihrem Herkunftsland verloren hatten, zeigten die Zuwanderer oft wenig Interesse an der Integration in die Gesellschaft des Aufnahmelands und wurden von der verarmten heimischen Mittelschicht als Belastung oder sogar Bedrohung empfunden. Die Rückführung in die Herkunftsländer war schwierig, weil diese die Rücknahme ihrer früheren Staatsangehörigen verweigerten. Die Folge davon war, dass die Flüchtlinge zum Teil illegal zurückgeschleust wurden. Um Rückführungen zu vermeiden, erklärte sich eine zunehmende Zahl als „staatenlos“, auch wenn damit weitgehende Rechtslosigkeit einherging. „Alle Diskussionen über Flüchtlingsprobleme drehten sich um diese eine Frage: Wie kann der Flüchtling wieder abschiebbar gemacht werden?“ (Arendt, S. 371). Wo alle Lösungen vergeblich erschienen, wurden Flüchtlinge in Lagern interniert.
Der staatenlose Mensch hatte meist kein Aufenthaltsrecht und keine Arbeitserlaubnis und war daher zum latenten Rechtsbruch verurteilt. Aber mit dem offenen Rechtsbruch, mit kriminellen Taten, erlangte er wieder einen Rechtsstatus, wenn auch als Krimineller. Die andere Möglichkeit, anerkannt zu werden, bestand darin, auf die eine oder andere Art berühmt zu werden, um durch die Erregung von Aufmerksamkeit rechtsstaatlichen Schutz zu erlangen. Aber das war nur für wenige möglich.
Die Überforderung der Staaten mit den Flüchtlingsproblemen führte dazu, dass auch die westlichen Demokratien der Polizei immer größeren Spielraum gaben, eigenmächtig zu handeln. Da die Natur der Probleme grenzüberschreitend war, kam es zur Zusammenarbeit der Polizei der demokratischen mit den totalitären Staaten, einschließlich Nazi-Deutschlands. „Wenn die Nazis eine Person in ein Konzentrationslager steckten und ihr die Flucht, beispielsweise nach Holland, gelang, steckten die Holländer sie in ein Internierungslager“ (Arendt, S.377).
Heute ist das Recht auf Asyl im nationalen und europäischen Recht verankert. Laut Deutschem Grundgesetz haben politisch Verfolgte ein Recht auf Asyl. Die Genfer Flüchtlingskonvention geht weiter. Dort soll Schutz genießen, wer aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischen Überzeugungen verfolgt wird. Und in Deutschland bekommt „subsidiären“ Schutz, wer stichhaltige Gründe dafür anführen kann, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht und er den Schutz seines Herkunftslands nicht in Anspruch nehmen kann.
Doch ist die Immigration aus dem Nahen Osten und Afrika für viele heute beinahe so Besorgnis erregend wie die Migration vor einem Jahrhundert. Wieder regt sich vor allem in der unteren Mittelschicht Widerstand, der Raum für nationalistische Politik schafft. Man hofft, sich durch die Betonung der Nationalität Rechtsansprüche bewahren zu können, die bei Entnationalisierung aufgrund der Überforderung staatlicher Sozialsysteme verloren gehen könnten.
Auch die Regierungen erscheinen so hilflos wie damals. Sie geben vor, die universellen Menschenrechte hochzuhalten – auch, um die lautstarken Anwälte dieser Rechte zu befriedigen - und bezahlen autoritäre Nachbarstaaten zur möglichst unauffälligen, aber wirksamen Zurückhaltung von Flüchtlingen. Die Warnung Arendts, dass die Furcht vor der Bedrohung des sozialen und politischen Lebens durch unkontrollierte Immigration schließlich „Barbaren“ aus dem Inneren unserer Zivilisation schaffen würde, die Millionen Menschen die „Lebensbedingungen von Wilden“ aufzwingen, erscheint auch heute noch aktuell. Wer nicht will, dass aus einem weiten ein sehr enges Herz wird, muss daher die Begrenztheit der Mittel bei der Asylpolitik respektieren.
Die jüngst erzielte Einigung des EU-Ministerrats auf eine neue Ordnung für Asylverfahren und Steuerung der Migration ist daher ein Schritt in die richtige Richtung. Abgesehen von einer Vereinheitlichung nationaler Verfahren soll sie dazu dienen, Menschen, die sich auf die im Asylrecht definierten Fluchtgründe beziehen können, von anderen, die ihre wirtschaftliche Lage verbessern wollen, zu trennen. Diese Trennung ist nötig, wurden in Deutschland doch im Jahr 2023 knapp die Hälfte aller Asylanträge abgelehnt, obwohl die Definition der Fluchtgründe recht weit ist (siehe oben). Bisher wurden aber nur wenige abgelehnte Asylbewerber in ihre Herkunftsländer oder Drittländer zurückgeführt. Der Ministerrat hofft, dass bei einer Prüfung der
Asylberechtigung an den Außengrenzen weniger unberechtigte Einreisen erfolgen und illegale Aufenthalte durchgesetzt werden können als gegenwärtig.
Allerdings soll die Prüfung in der Regel nur für Antragsteller nach einem illegalen Grenzübertritt und für Antragsteller aus als sicher geltenden Herkunftsländer an der Grenze erfolgen. Außerdem ist zu befürchten, dass die Neuordnung nur in verwässerter Form oder überhaupt nicht kommen wird. Eine Minderheit von EU-Ländern, unter anderem Polen und Ungarn, widersetzt sich der Verteilung anerkannter Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedsländer und lehnt Kompensationszahlungen für die Verweigerung der Aufnahme ab. Eine andere Minderheit, darunter vor allem Deutschland, möchte weitere Ausnahmen für die Prüfung von Asylanträgen an der Grenze, zum Beispiel für Familien mit Kindern. Im Europäischen Parlament, dessen Zustimmung erforderlich ist, opponieren Abgeordnete aus den Fraktionen der Grünen und der Sozialdemokraten gegen die Verschärfung des Asylerfahrens.
Nach den schlimmen Erfahrungen der früheren Jahre wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Asylrechte weit gefasst und im nationalen Recht verankert. Damit wurden die Menschrechte zwar von einer abstrakten Idee zu einem einklagbaren Anspruch. Aber es blieb weiterhin ungeklärt, wie diese Ansprüche aufrechterhalten werden können, wenn der liberale Rechtsstaat nicht als Ziel aller gesellschaftlichen Entwicklung akzeptiert wird, und wie die Ansprüche erfüllt werden können, wenn sie massenhaft gestellt werden. Gegenwärtig ist das Modell des liberalen Rechtsstaats nur in einer Minderheit der Staaten verwirklicht und die Ansprüche auf Asyl aus anderen Ländern drohen die liberalen Rechtsstaaten zu überwältigen.
Laut dem Demokratieindex des britischen Magazins The Economist hatten im Jahr 2022 nur 24 von 167 Ländern der Welt die Staatsform der vollständigen Demokratie. Weitere 48 Länder brachten es auf eine unvollständige Demokratie. Folglich hatten rund 57 Prozent der Länder eine mehr oder weniger autoritäre Staatsform. Als Garanten für die Menschenrechte – und damit auch für das Recht auf Asyl – standen nur 14 Prozent aller Staaten zur Verfügung. In diesen Staaten leben nur 15 Prozent der Weltbevölkerung. Weder haben es die Bewohner dieser Staaten geschafft, ihre Staatsform als das erstrebenswerte Ideal in der Welt zu verankern, noch sind sie dazu in der Lage, die Ansprüche auf universelle Menschenrechte der in den anderen Staaten lebenden 85 Prozent der Menschheit durch die Gewährung von Asyl zu sichern.
Wie zu Arends Zeiten bleiben die Menschenrechte ein Privileg für wenige und ein unerfüllbarer Anspruch für die meisten. Wenn die Politik die Begrenzung der Mittel nicht anerkennt, werden die überforderten Rechtsstaaten erneut eine Erosion ihrer liberalen Rechtsstaatlichkeit erfahren. Es wäre eine böse Ironie der Geschichte, wenn Deutschland, der Übeltäter von gestern, mit seinem Anspruch auf moralische Weltmeisterschaft heute wieder diese Erosion vorantreiben würde. Notwendig wäre daher, zu versuchen, mit Verantwortungsethik das Mögliche zu erreichen, statt mit Gesinnungsethik Kurs auf ein erneutes Desaster zu nehmen.
1 Hannah Arendt (1951), The Origins of Totalitarianism. Penguin Classics 2017. Eigene Übersetzungen aus dem Original.
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