Im ersten Wahlgang der Neuwahl der französischen Nationalversammlung am 30. Juni 2024 erreichte die Partei Rassemblement national nach derzeitigem Stand der Hochrechnungen 33,2 Prozent der abgegebenen Gesamtstimmen, das Linksbündnis Front populaire 28,1 Prozent, das Parteibündnis von Präsident Emmanuel Macron Ensemble 21 Prozent und die Partei Les Républicains 10 Prozent, während die anderen Parteien zu vernachlässigen sind (Stand: 30.6.2024 um 22.30 Uhr).1 Die Anzahl der jeweiligen Abgeordnetenmandate in der Nationalversammlung ist jedoch noch offen. Bei einem Mehrheitswahlrecht kann der Stimmenanteil für die Rassemblement national aber für eine absolute Mehrheit an Sitzen ausreichend sein.
Die Abgeordneten der französischen Nationalversammlung werden in 577 Wahlkreisen in zwei Wahlgängen nach dem Mehrheitswahlrecht direkt gewählt. Erhält ein Kandidat bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit, also mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen, und erreicht der Kandidat damit mindestens 25 Prozent der Anzahl der Wahlberechtigten eines Wahlkreises, dann ist dieser Kandidat bereits im ersten Wahlgang als Abgeordneter der Nationalversammlung für diesen Wahlkreis gewählt. Ein zweiter Wahlgang findet in diesem Wahlkreis dann nicht mehr statt. Im zweiten Wahlgang der noch ergebnisoffenen Wahlkreise reicht die relative Mehrheit. Im zweiten Wahlgang dürfen auf jeden Fall die beiden Erstplatzierten des ersten Wahlganges kandidieren, aber auch alle anderen Kandidaten, die im ersten Wahlgang mindestens 12,5 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten dieses Wahlkreises erhalten haben. Im zweiten Wahlgang kandidieren also mindestens zwei Personen gegeneinander.
Die hohe Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang zur französischen Nationalversammlung am 30. Juni 2024 dürfte dazu geführt haben, daß am 7. Juli 2024 im zweiten Wahlgang in erheblich mehr Wahlkreisen mehr als zwei Personen gegeneinander kandidieren werden als bei den vergangenen Wahlen. Aus diesem Grund wird darüber verhandelt, ob Dritt- und Viertplatzierte ihre Kandidatur zurückziehen, um so die Wahlchancen eines der beiden Erstplatzierten zu erhöhen.
Präsident Emmanuel Macron hatte am Abend der Europawahl am 9. Juni 2024 überraschend die Neuwahl zur Nationalversammlung ausgerufen und vor einem „Bürgerkrieg“ gewarnt, falls die Franzosen am 30. Juni 2024 genauso wählen sollten wie bei der Europawahl. Genau das haben die Franzosen jetzt - entgegen der präsidialen Warnungen - getan. Deshalb scheint Macron nun dazu zu tendieren, mit der „linken Bürgerkriegspartei“ Wahlvereinbarungen zu treffen, um die Chancen der „rechten Bürgerkriegspartei“ zu senken. Wenn dieses Kalkül ebenso mißlingt wie sein Kalkül der Neuwahl der Nationalversammlung, weil die französischen Wähler der Mitte am 7. Juli 2024 die „linke Bürgerkriegspartei“ als problematischer ansehen als die „rechte Bürgerkriegspartei“, dann wäre es Emmanuel Macron – entgegen seiner eigenen Zielsetzung – gelungen, die „rechte Bürgerkriegspartei“ weiter zu promovieren.
In Deutschland hatte ein solches Kunststück Angela Merkel zu Wege gebracht, indem sie durch ihre Flüchtlingspolitik seit 2015 die kurz vor der Selbstzerstörung stehende AfD wiederbelebte und 2017 in den Deutschen Bundestag promovierte. Die Folgen von Macrons nicht aufgehenden Kalkülen könnten für Frankreich und für die Europäische Union erheblich größer ausfallen.
Das Hauptthema, welches die politische und gesellschaftliche Polarisierung sowohl in Europa als auch in den USA vorantreibt, ist nach wie vor das Migrationsproblem. Aber darüber hinaus hat sich Emmanuel Macron insbesondere bezüglich seiner durchaus erfolgreichen wirtschaftspolitischen Reformpolitik im Paradoxon der französischen politischen Kultur verheddert.
Das Ergebnis des ersten Wahlgangs zur französischen Nationalversammlung vom 30. Juni 2024 ist auf jeden Fall eindeutig: Emmanuel Macron ist gescheitert. Er ist gescheitert, obwohl er gar nicht zur Wahl stand und noch bis 2027 Präsident Frankreichs sein kann. Und auch wenn viele jetzt urteilen werden, daß Macron gescheitert sei, weil er in einem Anfall von Tollkühnheit am Abend der Wahlen zum Europäischen Parlament vom 9. Juni 2024 Neuwahlen zur französischen Nationalversammlung ausgerufen hat, so liegt die tiefere Ursache seines Scheiterns auf einer anderen, viel schwerwiegenderen Ebene. Denn sein Ausrufen von Neuwahlen war der verzweifelte und im Ergebnis untaugliche Versuch, sich aus der Logik des Paradoxons der französischen politischen Kultur zu befreien und damit aus jener Logik, welche er bei der Gründung seiner Bewegungspartei En Marche im Jahr 2016 und bei seiner Wahl zum Präsidenten Frankreichs im Jahr 2017 selbst virtuos und mit großem Erfolg bedient hatte.
In Frankreich hat sich über Generationen eine politische Kultur entwickelt, in welcher man einerseits zu aggressiven Massenprotesten und militantem Widerstand gegen Reformvorhaben des Staates neigt. Besitzstandwahrung gepaart mit einem hohen Mobilisierungsgrad treiben französische Regierungen oftmals in die Defensive. Dazu kommt, daß politische Streiks in Frankreich erlaubt sind. Andererseits wird in Frankreich über alle Parteigrenzen hinweg und in allen Bevölkerungsschichten der Primat der Politik über Wirtschaft und Gesellschaft anerkannt und die Allzuständigkeit des Zentralstaates gefordert.
Die konstruktivistische Führungs- und Lenkungsrolle des Staates führt zu einem gebrochenen Verhältnis zur Marktwirtschaft. Der dezentralen Lösung von Problemen und dem dezentralen evolutionären Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft werden kaum Chancen gegeben. Die Überforderung des Staates ist deshalb systematisch vorprogrammiert. Der Staat soll es richten. Aber wenn er es richten und dabei Verkrustungen und Besitzstände aufbrechen will, treiben ihn militante Proteste bis hin zu politischen Streiks in die Defensive. Polarisierung durch Problemverschleppung ist die Folge.
In Frankreich wird von vielen seit Jahren anerkannt, daß Frankreich Strukturreformen benötigt.2 Aus diesem Grund leitete der Sozialist Francois Hollande nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten 2012 eine angebotspolitische Wende ein. Im März 2014 bestätigte Hollande seinen Kurs durch die Berufung des Reformers Manuel Valls als Premierminister. Im August 2014 wurde dann ein linker Kritiker dieser wirtschaftspolitischen Linie, Arnaud Montebourg, durch den überzeugten Reformer und heutigen Staatspräsidenten Emmanuel Macron als Wirtschaftsminister ersetzt.
Emmanuel Macron brachte als Wirtschaftsminister das Gesetz über „Wachstum, wirtschaftliche Aktivität und Chancengleichheit“ auf den Weg, mit welchem einige freie Berufe liberalisiert, das Kündigungsrecht reformiert und Ladenöffnungszeiten am Sonntag gelockert wurden. Bereits dieses Gesetz konnte nur durch die Anwendung des Artikels 49-3 der französischen Verfassung durchgesetzt werden. Der Artikel 49-3 erlaubt es dem Premierminister, ein Gesetz ohne Abstimmung im Parlament in Kraft zu setzen, indem er dieses Gesetz mit der Vertrauensfrage verbindet.
Auch das „Gesetz über die Arbeit, die Modernisierung des sozialen Dialogs und die Sicherung beruflicher Laufbahnen“, welches massive Proteste und teilweise gewaltsame Aktionen der Bevölkerung hervorgerufen hatte, konnte 2016 nur durch Anwendung von Artikel 49-3 in Kraft zu setzen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Emmanuel Macron bereits sein Amt als Wirtschaftsminister aufgegeben und die Bewegung En Marche gegründet, um seit Frühjahr 2016 den Kampf um das Amt des Staatspräsidenten aufzunehmen.
Der heutige Staatspräsident Emmanuel Macron legte nun im Frühjahr 2017 ein Wahlprogramm vor, das konsequentere Reformen als die von Manuel Valls enthielt, vermied jedoch konkrete Festlegungen, wie diese zu welchen Kosten umgesetzt werden können. Macron richtete seine Wahlkampfstrategie also konsequent am skizzierten politisch-kulturellen Paradoxon Frankreichs aus.
Einerseits sammelte Macron mit seiner neuen Bewegung En Marche seit dem Frühjahr 2016 viele Unzufriedene ein, verbreitete Veränderungs- und Aufbruchsstimmung und strahlte einen neuen Führungs- und Gestaltungswillen des Staates aus. Andererseits vermittelte Macron im Wahlkampf 2017 den Eindruck, nichts an der Komfortzone der staatlichen Fürsorge und des Wohlstaatsstaates ändern zu wollen, was wirklich wehtun könnte.
Am 7. Mai 2017 wurde Emmanuel Macron zum neuen Präsidenten Frankreichs gewählt. Und bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 errang sein Wahlbündnis die absolute Mehrheit an Sitzen. Seine Wahlkampfstrategie, die konsequent am Paradoxon der französischen politischen Kultur ausgerichtet war, ging auf.
Die konsequent am Paradoxon der französischen politischen Kultur Frankreichs ausgerichtete Wahlkampfstrategie von Emmanuel Macron legte jedoch zugleich den Keim für seine Unbeliebtheit während seiner ersten Amtszeit von 2017 bis 2022 und während seiner bisherigen zweiten Amtszeit. Denn entweder würde Macron auf die Umsetzung der versprochenen Reformen verzichten und niemandem wehtun, oder es würde den Franzosen im Zeitablauf immer deutlicher werden, daß die von Macron versprochenen Reformen mit unangenehmen Kosten verbunden sind. Letzteres war der Fall. Und deshalb konnte Macron sein Präsidentenamt im April 2022 auch nicht wegen, sondern nur trotz seiner Reformen verteidigen. Einer Mehrheit der Franzosen gab außenpolitisch in der durch den Ukrainekrieg ausgelösten Zeitenwende dem überzeugten Europäer Macron den Vorzug vor der damaligen Putin-Versteherin Marine Le Pen. In den letzten zwei Jahren hat Marine Le Pen ihre Putin-Nähe jedoch aufgegeben und sich auf die Seite der Ukraine gestellt. Ob diese primär taktische Wende von Dauer und belastbar ist, kann nur abgewartet werden.
Aber bleiben wir noch kurz beim Wahlkampf des Jahres 2022. Vor der Wahl zur Nationalversammlung im Juni 2022 hatten Marine Le Pen auf der Rechten und Jean-Luc Mélenchon auf der Linken ihrerseits das Paradoxon der französischen politischen Kultur erfolgreich bedient, indem sie das Thema Inflation besetzten, über wirksame Maßnahmen gegen die Inflation aber schwiegen. Beide schwiegen, weil die Programme rechter und linker Populisten in der Regel ungeeignet sind, die Ursachen sowohl von Vermögenspreisinflation als auch von Konsumgüterpreisinflation zu bekämpfen. Denn die propagierten und durch neue Staatsschulden zu finanzierenden Ausgabenprogramme für die umworbene Wählerklientel befeuern die Ursachen der Inflation.
Macron konnte jedoch weder 2022 und noch weniger kann er heute diesen Grundwiderspruch in den Positionen zur Inflation von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon glaubwürdig entkräften. Erstens sind in der Amtszeit von Emmanuel Macron die Staatsschulden Frankreichs auf über 110 Prozent des BIP gestiegen. Wenn Macron ein Programm zur Konsolidierung der Staatsschulden auf 60 Prozent des BIP, wie von den europäischen Stabilitätskriterien gefordert, vorschlagen würde, was mit weitreichenden Einschnitten im französischen Staatshaushalt verbunden wäre, dann hätten die rechten und linken Populisten noch mehr Zulauf erhalten.
Zweitens kann Macron diese Forderung gar nicht glaubwürdig vertreten, da seine gesamte Europapolitik der letzten sieben Jahre darauf ausgerichtet war, die Stabilitätskriterien der Europäischen Verträge auszuhebeln und auszuhöhlen und neue Staatsschuldentöpfe auf europäischer Ebene zu etablieren. Das heißt, Emmanuel Macron hätte in der Sache Inflation nur dann Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon etwas entgegenzusetzen, wenn er seine eigene Europapolitik korrigieren würde. Dazu war und ist Macron jedoch nicht bereit und wird Macron auch in Zukunft nicht bereit sein. Im Gegenteil: Auf europäischer Ebene dürfte Macron weiterhin eine Politik verfolgen, die inflationsfördernd ist. Vor zwei Jahren hatten wir deshalb geurteilt: „Für Frankreich könnte das bedeuten, daß Macron damit weitere Wähler in die Arme der Rechtspopulisten und Linkspopulisten treibt… Weitere Polarisierung durch Problemverschleppung könnte die Folge sein.“
1 Siehe https://www.francetvinfo.fr/elections/resultats/#
2 Vgl. zu den folgenden Absätzen Norbert F. Tofall: Was folgt nach den Wahlen in Frankreich? Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 7. April 2017, S. 2-4, online: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/was-folgt-nach-den-wahlen-in-frankreich/
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