In Zusammenarbeit mit Tom Bugdalle (Universität Leipzig)
Die Geldpolitik der EZB und die Finanzpolitiken der Nationalstaaten in der Europäischen Union waren einst institutionell getrennt. Doch die nationalen Zentralbanken und die EZB selbst haben im großen Umfang Staatsanleihen gekauft, einschließlich supranationaler Anleihen. Die Europäische Union und europäische Institutionen geben immer mehr eigene Anleihen aus. Am Ende eines graduellen Transformationsprozesses könnte die EZB die Europäische Union dauerhaft über den Ankauf von EU-Anleihen finanzieren.
Als der Euro im Jahr 1999 startete, war dieser auf eine klare institutionelle Trennung zwischen Europäischer Zentralbank (EZB) und den Finanzministerien der Nationalstaaten ausgerichtet. Die Verantwortung für die Finanzpolitiken verblieb nach den europäischen Verträgen bei den Nationalstaaten, die die Europäische Union (EU) über Zuweisungen finanzierten. Die EU durfte keine Steuern erheben und keine eigenen Schulden machen, was deren Einfluss begrenzte.
Die EZB war unabhängig und primär dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet, weshalb sie keine Staatsfinanzierung betreiben durfte. Die Entscheidungen des EZB-Rates als oberstem Beschlussorgan des Eurosystems – das ist die EZB und die nationalen Zentralbanken der Eurostaaten – haben die nationalen Zentralbanken umgesetzt. Das hat den Einfluss der EZB und der nationalen Regierungen eingeschränkt sowie eine Vergemeinschaftung von Risiken verhindert.
Doch seither scheint sich die EU einer Finanzierung durch die EZB anzunähern, wie es vor dem Euro in Frankreich oder Italien üblich war. Die Ausfallrisiken könnten eines Tages alle vergemeinschaftet sein.
Den Anstoß zu einer Finanzierung von Staatsausgaben durch die EZB gab die europäische Finanz- und Schuldenkrise. Aufgrund einer drohenden Staatsschuldenkrise beschloss der EZB-Rat im Jahr 2010, im Rahmen des Securities Market Programm (SMP) Staatsanleihen von Krisenstaaten zu kaufen. Mit dem Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (APP) folgte 2015 der Kauf von Staatsanleihen aller Eurostaaten, wobei das Gesamtvolumen zwischen den Euroländern nach den Anteilen der nationalen Zentralbanken am Kapitalschlüssel der EZB aufgeteilt wurde. Im Zuge des Pandemischen Notfallkaufprogramms (PEPP) beschloss die EZB vom Kapitalschlüssel abweichen zu können. Der Bestand an öffentlichen Anleihen in der Bilanz des Eurosystems hat im Juni 2022 mit rund 4.000 Milliarden Euro den bisherigen Höhepunkt erreicht.
Mit dem Anleihekaufprogramm SMP kaufte die EZB erstmals im größeren Umfang Anleihen auf eigene Rechnung, beim Anleihekaufprogramm APP zunächst im Umfang von 8 % der angekauften öffentlichen Anleihen (PSPP), ab 2016 im Umfang von 10 %. Der Anteil von 10 % gilt inzwischen für das gesamte Kaufprogramm PEPP. Der Bestand aller Anleihen in der Bilanz der EZB ist auf derzeit 440 Milliarden Euro angestiegen (siehe Abb. 1), was knapp 9 % der Anleihebestände des Eurosystems entspricht. Ein Großteil der EZB-Anleihebestände sind Staatsanleihen.
Zunächst schien vorgesehen, dass sich das Eurosystem nach den Ausnahmesituationen der Schulden- und Coronakrise wieder von seinen Anleihebeständen trennen würde. Doch im März 2024 hat der EZB-Rat beschlossen, dass das Eurosystem langfristig ein strukturelles Wertpapier-Portfolio halten wird. Das deutet auf dauerhafte Staatsanleihekäufe hin.
Die Emission von Staatsanleihen in der EU war lange Zeit weitgehend ein Privileg der Nationalstaaten, die nach den Maastricht-Kriterien der Schuldenkontrolle durch die EU unterlagen. Bereits in der europäischen Finanz- und Schuldenkrise wurden sogenannte Euro-Bonds gefordert, die jedoch die Bundesregierung noch blockierte.
In der Coronakrise erhielt die EU schließlich die Erlaubnis für eigene Anleihen – damals bezeichnet als Corona-Bonds. Diese finanzieren inzwischen den Aufbaufonds „NextGenerationEU“, der in Höhe von 809 Milliarden Euro Kredite und Zuwendungen an alle EU-Staaten verteilt. Es profitieren insbesondere hochverschuldete Länder wie Italien, Spanien und Griechenland, deren Staatsbankrott den Euro bedrohen würde.
Zwar wurden die NextGenerationEU-Schulden als zeitlich begrenzte Ausnahme beschlossen, doch werden bereits vielfach neue außerordentliche Anlässe für eine Neuauflage diskutiert. Beispielsweise hat der EU-Ratspräsident Charles Michel auf dem EU-Gipfel im März 2024 eine gemeinsame Verteidigungsanleihe ins Spiel gebracht. Auf der Internetseite der Europäischen Kommission findet sich die Ankündigung, dass die EU zwischen 2024 und 2027 Anleihen im Umfang von 33 Milliarden Euro für Ukraine-Hilfen ausgeben wird.
In Zeiten knapper Kassen sind EU-Anleihen aus Sicht aller Nationalstaaten attraktiv, weil die EU diese nicht auf die nationalen Maastricht-Verschuldungsgrenzen anrechnet. Eine Schuldenobergrenze für die EU gibt es nicht.
Allerdings war die Emission der EU-Anleihen bisher nur zu vergleichsweise hohen Zinsen möglich. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich deshalb genötigt gefühlt, von den Nationalstaaten zusätzliches Geld anzufordern.. Allerdings erfolglos. Das Zinsproblem wäre gelöst, wenn das Eurosystem in größerem Umfang EU-Anleihen kaufen und so die Zinsen auf die EU-Anleihen drücken würde.
Grundsätzlich ist das möglich. Die EZB nennt EU-Anleihen neben Anleihen der Europäischen Investitionsbank und des Krisenstabilisierungsfonds ESM in ihrer Liste ankauffähiger Wertpapiere. Den Ankauf von Wertpapieren von „internationalen Organisationen und multilateralen Entwicklungsbanken“ hat die EZB 2015 mit dem Anleihekaufprogramm APP zunächst auf 12 %, ab 2016 auf 10 % aller Anleihekäufe festgesetzt. In der Praxis dürften das Anleihen der EU bzw. von EU-Institutionen wie dem Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM oder der Europäischen Investitionsbank sein.
Die Anleihekaufprogramme APP und PEPP sehen vor, dass die EZB nur Anleihen von Nationalstaaten erwirbt. Die nationalen Zentralbanken erwerben auch supranationale Anleihen. Die EZB gibt an, dass die Zentralbanken von Estland, Frankreich, Griechenland, Lettland, Spanien und Slowenien die supranationalen Anleihen kaufen. Zudem schichtet die Luxemburger Zentralbank zugunsten supranationaler Anleihen um, wenn nationale Anleihen in ihrem Portfolio auslaufen. Während die Wertpapierbestände des Ankaufprogramms PEPP seit April 2022 um vier Milliarden Euro geschrumpft sind, ist das Volumen der supranationalen Anleihen um 13 Milliarden Euro angewachsen. Der Bestand supranationaler Anleihen des Eurosystems liegt derzeit bei ca. 420 Milliarden Euro (siehe Abb. 1).
Die deutliche Korrelation zwischen den Anleihebeständen der EZB und den vom Eurosystem gehaltenen Anleihen von supranationalen Institutionen (siehe Abb. 1), dürfte daran liegen, dass sowohl der Anteil der Anleihen der EZB an den Ankaufprogrammen PSPP und PEPP als auch der Anteil der supranationalen Anleihen an den beiden Ankaufprogrammen bei 10 % festgelegt ist. Das Ankaufprogramm für öffentliche Anleihen PSPP macht 80 % des Anleihekaufprogramms APP aus.
Es scheint also, als ob – weitgehend unbemerkt, weil nicht durch Vertragsveränderungen unterlegt – auf der Ebene der EU der Weg zu zentralbankfinanzierten Staatsausgaben gebahnt wird. Zwar kann die EU immer noch keine Steuern erheben, doch könnte sie bald auf Dauer Anleihen ausgeben, die von der EZB erworben werden. Die finanzielle Schlagkraft der EU würden relativ zu den Nationalstaaten wachsen. Die EU könnte nicht-kooperationswillige Mitgliedsstaaten mit der Drohung des Entzugs von Finanzmitteln leichter gefügig machen.
Die EU könnte, wie im Falle von NextGenerationEU, die neuen Ausgabenspielräume u.a. dazu nutzen, die für den Euro bedrohlichen wirtschaftlichen Diskrepanzen innerhalb des Euroraums zu überbrücken. Dann dürfte sich die EZB trotz Unabhängigkeit auf Dauer zur Kooperation mit der EU gezwungen sehen. Zudem könnten Kreditausfallrisiken zunehmend sozialisiert werden. Die nationalen Zentralbanken kaufen zwar immer noch keine Anleihen anderer Euroländer. Doch das gemeinsam getragene Ausfallrisiko für den Anleihebestand der EZB und supranationalen Anleihen liegt bereits bei ca. 17 % (siehe Abb. 2). Da auch für weitere Positionen gesamtschuldnerische Haftung gilt, liegt der Anteil in der Realität noch höher. Bei einem wachsenden Anteil der Anleihekäufe durch die EZB würden die nationalen Zentralbanken innerhalb des Eurosystems an Einfluss verlieren. Die Haftungsunion würde vertieft.
Ob eine zentralbankfinanzierte EU-Schuldenpolitik zum Wohle der Bürger und Bürgerinnen in der EU sein wird, ist fraglich. Zentralbankfinanzierte Staatsausgaben haben negative Wachstums- und Verteilungseffekte, die die Zentrifugalkräfte in der EU eher verstärken als reduzieren dürften. Zudem ist unwahrscheinlich, dass ein schuldenfinanzierter EU-Superstaat der großen kulturellen und wirtschaftlichen Heterogenität in der EU gerecht werden kann.
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