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Inflation und die Wahlen in Frankreich

Norbert F. Tofall

In Frankreich hat sich in den Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni 2022 der Trend aus der ersten Runde der Präsidentenwahlen am 10. April 2022 fortgesetzt. Die rechtspopulistische Partei Rassemblement unter Führung von Marine Le Pen und das Linksbündnis NUPES unter Führung von Jean-Luc Mélenchon konnten trotz des Mehrheitswahlrechts, das kleine Parteien die Erringung von Parlamentssitzen erschwert, erhebliche Gewinne erzielen. Da das Linksbündnis NUPES aus Linkspartei, Grünen, Kommunisten und Sozialisten schon wieder zu zerfallen scheint, weil die bei den Wahlen vereinten Parteien derzeit keine Fraktionsgemeinschaft eingehen wollen, stellen die Rechtspopulisten unter Marine Le Pen sogar die stärkste Oppositionsfraktion im französischen Parlament. Präsident Emmanuel Macron hat seine absolute Mehrheit im Parlament verloren und benötigt für die Durchsetzung weiterer Reformvorhaben die Unterstützung anderer Parteien.

Obwohl in den deutschen Medien in den letzten Tagen überwiegend Stilfragen als Ursache für die Wahlniederlage von Macron bei den Parlamentswahlen herangezogen wurden, dürften die tieferen Ursachen für diese Wahlergebnisse doch ganz anderer Natur sein. Sowohl Marine Le Pen als auch Jean-Luc Mélenchon hatten seit Monaten das Thema Inflation und hohe Energiepreise besetzt und konnten damit einen großen Teil derjenigen Franzosen, die überhaupt noch zur Wahl gegangen sind, erreichen. Populismus profitiert von Inflation.1

Präsident Macron hatte indes bereits die Gelbwesten-Proteste ab November 2018, die Reaktionen auf die durch Ökosteuern erhöhten Energiepreise darstellten, erst unterschätzt und dann durch sogenannte Bürgerdialoge zu entschärfen versucht, ohne jedoch ein schlüssiges und wirksames wirtschaftspolitisches Konzept gegen hohe Energiepreise und gegen aufziehende Inflationsgefahren vorzulegen oder gar auch nur im Ansatz umzusetzen. Die von seiner Regierung im Herbst 2021 eingeführten Preiskontrollen waren reine oberflächliche Symptombekämpfung, die zudem das aufziehende Inflationsproblem nicht im Ansatz zu bekämpfen geeignet waren.

Daß Emmanuel Macron dann im Wahlkampf in Sachen Inflation nichts gegen Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon ins Feld führen konnte, liegt zudem daran, daß die beiden Herausforderer die Methode, die Macron im Frühjahr 2017 im damaligen Präsidentenwahlkampf angewendet hatte, erfolgreich kopiert haben. Um diese Methode zu verstehen, lohnt ein kurzer Rückblick.

I.

In Frankreich wird von vielen seit Jahren anerkannt, daß Frankreich Strukturreformen benötigt.2 Aus diesem Grund leitete der Sozialist Francois Hollande nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten 2012 eine angebotspolitische Wende ein. Im März 2014 bestätigte Hollande seinen Kurs durch die Berufung des Reformers Manuel Valls als Premierminister. Im August 2014 wurde dann ein linker Kritiker dieser wirtschaftspolitischen Linie, Arnaud Montebourg, durch den überzeugten Reformer und heutigen Staatspräsidenten Emmanuel Macron als Wirtschaftsminister ersetzt.

Emmanuel Macron brachte als Wirtschaftsminister das Gesetz über „Wachstum, wirtschaftliche Aktivität und Chancengleichheit“ auf den Weg, mit welchem einige freie Berufe liberalisiert, das Kündigungsrecht reformiert und Ladenöffnungszeiten am Sonntag gelockert wurden. Bereits dieses Gesetz konnte nur durch die Anwendung des Artikels 49-3 der französi­schen Verfassung durchgesetzt werden. Der Artikel 49-3 erlaubt es dem Premierminis­ter, ein Gesetz ohne Abstimmung im Parlament in Kraft zu setzen, indem er dieses Ge­setz mit der Vertrauensfrage verbindet.

Daß das Gesetz über „Wachstum, wirtschaftliche Aktivität und Chancengleichheit“ nur durch Anwendung des Verfassungsartikels 49-3 durchgesetzt werden konnte, belegt, daß Staatspräsident Hollande und Premierminister Valls bereits zu diesem Zeitpunkt keine Mehrheit in der eigenen Partei für ihren wirtschaftspolitischen Kurs hatten. Ma­nuel Valls war deshalb im Jahr 2016 kurz vor der parlamentarischen Sommerpause ge­zwungen, auch das „Gesetz über die Arbeit, die Modernisierung des sozialen Dialogs und die Sicherung beruflicher Laufbahnen“, welches massive Proteste und teilweise gewaltsame Aktionen der Bevölkerung hervorgerufen hatte, durch Anwendung von Ar­tikel 49-3 in Kraft zu setzen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Emmanuel Macron bereits sein Amt als Wirtschaftsminister aufgegeben und die Bewegung „En Marche“ gegründet, um seit Frühjahr 2016 den Kampf um das Amt des Staatspräsidenten aufzunehmen.

Die Schwierigkeiten, in Frankreich nachhaltige Reformen oder auch nur eine „Agenda 2010 light“ durchzusetzen, werfen instruktiv ein Licht auf ein Paradoxon der französi­schen politischen Kultur. Einerseits neigt man in Frankreich zu aggressiven Massen­protesten und militantem Widerstand gegen notwendige Reformvorhaben des Staates. Besitzstandswahrung gepaart mit einem hohen Mobilisierungsgrad treiben französische Regierungen oftmals in die Defensive. In Frankreich sind politische Streiks er­laubt. Andererseits wird in Frankreich über alle Parteigrenzen hinweg und in allen Be­völkerungsschichten der Primat der Politik über Wirtschaft und Gesellschaft quasi-reli­giös zelebriert und die Allzuständigkeit des Zentralstaates gefordert.

Aus diesem von der Bevölkerung geforderten konstruktivistischen Führungs- und Lenkungsan­spruch des Staates ergibt sich ein gebrochenes Verhältnis zur Marktwirtschaft. Die dezentrale Lö­sung von Problemen und der dezentrale evolutorische Wandel von Wirtschaft und Ge­sellschaft haben kaum eine Chance. So ist die systematische Überforderung des Staates vorprogrammiert. Der Staat soll es richten. Aber wenn der Staat es richtet und dabei Verkrus­tungen und Besitzstände aufbrechen will, treiben ihn militante Proteste bis hin zu politi­schen Streiks in die Defensive. Polarisierung durch Problem­verschleppung ist die Folge.

Der heutige Staatspräsident Emmanuel Macron legte nun im Frühjahr 2017 ein Wahlprogramm vor, das konsequentere Reformen als die von Valls enthielt, vermied jedoch konkrete Festlegungen, wie diese zu welchen Kosten umgesetzt werden können. Macron richtete seine Wahlkampfstrategie konsequent am skizzierten politisch-kulturellen Para­doxon Frankreichs aus.

Einerseits sammelte Macron mit seiner neuen Bewegung En Marche seit dem Frühjahr 2016 viele Unzufriedene ein, verbreitete Veränderungs- und Aufbruchsstimmung und strahlte einen neuen Führungs- und Gestaltungswillen des Staates aus. Ande­rerseits vermittelte Macron im Wahlkampf 2017 den Eindruck, nichts an der Komfortzone der staatlichen Für­sorge und des Wohlstaatsstaates ändern zu wollen, was wirklich wehtun könnte. Durch Reformen sollte aber alles effizienter werden.

Am 7. Mai 2017 wurde Emmanuel Macron zum neuen Präsidenten Frankreichs gewählt.3 Und bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 errang sein Wahlbündnis aus LREM und MoDem die absolute Mehrheit an Sitzen. Seine Wahlkampfstrategie, die konsequent am Paradoxon der französischen politischen Kultur ausgerichtet war, ging auf.

II.

Die konsequent am Paradoxon der französischen politischen Kultur Frankreichs ausgerichtete Wahlkampfstrategie von Emmanuel Macron legte jedoch zugleich den Keim für seine Unbeliebtheit während seiner Amtszeit von 2017 bis 2022. Denn entweder würde Macron auf die Umsetzung der versprochenen Reformen verzichten und niemandem wehtun, oder es würde den Franzosen im Zeitablauf immer deutlicher werden, daß die von Macron versprochenen Reformen mit unangenehmen Kosten verbunden sind. Letzteres war der Fall. Und deshalb konnte Macron sein Präsidentenamt im April 2022 auch nicht wegen, sondern nur trotz seiner Reformen verteidigen. Einer Mehrheit der Franzosen gab außenpolitisch in Zeiten des Ukrainekrieges dem überzeugten Europäer Macron den Vorzug vor der Putin-Versteherin Marine Le Pen.

Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon konnten in den letzten Monaten jedoch ihrerseits das Paradoxon der französischen politischen Kultur bedienen, indem sie das Thema Inflation besetzten, über wirksame Maßnahmen gegen die Inflation aber schwiegen. Die Programme rechter und linker Populisten sind zudem in der Regel ungeeignet, die Ursachen sowohl von Vermögenspreisinflation als auch von Konsumgüterpreisinflation zu bekämpfen. Denn die propagierten und durch neue Staatsschulden zu finanzierenden Ausgabenprogramme für die umworbene Wählerklientel befeuern die Ursachen der Inflation. Und daß Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon Zinserhöhungen der EZB fordern würden, ist auch nicht bekannt.

Macron konnte jedoch seinerseits diesen Grundwiderspruch in den Positionen zur Inflation von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon auch nicht glaubwürdig entkräften und das aus zwei Gründen nicht:

Erstens sind in der Amtszeit von Emmanuel Macron die Staatsschulden Frankreichs auf über 110 Prozent des BIP gestiegen. Wenn Macron im Wahlkampf ein Programm zur Konsolidierung der Staatsschulden auf 60 Prozent des BIP, wie von den europäischen Stabilitätskriterien gefordert, vorgeschlagen hätte, was mit weitreichenden Einschnitten im französischen Staatshaushalt verbunden wäre, dann hätten wohl die rechten und linken Populisten, die ja Ausgabenerhöhungen gefordert haben, noch mehr Zulauf erhalten.

Zweitens hätte Macron diese Forderung gar nicht glaubwürdig vertreten können, da seine gesamte Europapolitik der letzten fünf Jahre inhaltlich und personalpolitisch darauf ausgerichtet war, die Stabilitätskriterien der Europäischen Verträge auszuhebeln, auszuhöhlen und abzuschaffen, neue Staatsschuldentöpfe auf europäischer Ebene zu etablieren und durch die Installierung von Christine Lagarde als EZB-Präsidentin für eine ultralockere Geld- und Zinspolitik zu sorgen, die weiterer Staatsverschuldung nicht im Wege steht.

Das heißt, Emmanuel Macron hätte in der „Sache Inflation“ nur dann gegen Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon eine Chance gehabt, wenn er seine eigene Politik korrigiert hätte. Dazu war Macron jedoch nicht bereit und wird Macron auch in Zukunft nicht bereit sein. Im Gegenteil: Auf europäischer Ebene dürfte Macron weiterhin eine Politik verfolgen, die inflationsfördernd ist. Für Frankreich könnte das bedeuten, daß Macron damit weitere Wähler in die Arme der Rechtspopulisten und Linkspopulisten treibt. Macron kann in fünf Jahren zwar nicht wiedergewählt und deshalb auch nicht an der Wahlurne abgestraft werden, das Paradox der französischen politischen Kultur dürfte sich jedoch weiter verschärfen. Weitere Polarisierung durch Problemverschleppung könnte die Folge sein.

Downloads:

Inflation und die Wahlen in Frankreich (PDF)​​​​​​​

1 Siehe Norbert F. Tofall: Populismus und Inflation. Oder weshalb der Westen ein neues „Bretton Woods“ benötigt, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 13. Mai 2022, online: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/populismus-und-inflation-oder-weshalb-der-westen-ein-neues-bretton-woods-benoetigt/

2 Vgl. zu den folgenden Absätzen Norbert F. Tofall: Was folgt nach den Wahlen in Frankreich? Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 7. April 2017, S. 2-4, online: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/was-folgt-nach-den-wahlen-in-frankreich/

3 Siehe Norbert F. Tofall: Emmanuel Macron ist Präsident Frankreichs. Was folgt für Europa und die Europäische Union? Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 8. Mai 2017, online: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/emmanuel-macron-ist-praesident-frankreichs/

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