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Macht der Gewohnheit

Staaten, Unternehmen und Häuslebauer haben sich massiv verschuldet – dem Niedrigzins sei Dank. Aber was passiert, wenn die Zinsen weiter steigen?

Paul Adolph Volcker gilt als herausragende Persönlichkeit – allein schon wegen seiner Körpergröße: Zwei Meter und einen Zentimeter maß der ehemalige Chef der US-Notenbank Fed (1979 – 1987).

In den vergangenen Wochen und Monaten ist in den Wirtschaftsmedien häufiger über ihn zu lesen gewesen; über den Mann, der Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre erfolgreich die Inflation in den USA bekämpfte, in dem er die Zinsen auf zeitweise mehr als 20 Prozent anhob. In den Geschichtsbüchern und wissenschaftlichen Abhandlungen ist vom „Volcker-Schock“ die Rede.

Die Teuerungsraten waren damals immer weiter gestiegen, auf bis zu 15 Prozent, auch weil die Fed sehr lange sehr zögerlich war. In der Rückschau sagen heute viele Notenbanker und Wirtschaftswissenschaftler: zu zögerlich. Bis Volcker kam.

Lagarde kann nicht

Es verwundert wenig, dass manch Leser, manch Leserin sich heute an jene Jahre erinnern, während sie an die Inflation denken und wie die Notenbanken damit umgehen könnten.

Und es verwundert auch nicht, dass sich womöglich der ein oder andere Sparer, sich die ein oder andere Sparerin wünscht, es gäbe einen Volcker an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB). Eine Präsidentin oder einen Präsidenten, die oder der den Zins auch auf Höhe der aktuellen Inflationsraten anhöbe. Knapp neun Prozent wären das.

Christine Lagarde, die derzeitige Chefin der EZB, hat jedoch ein Problem: Sie kann nicht, wie sie vielleicht wollen würde. Denn nicht allein die Zeit ist fortgeschritten seit dem „Volcker-Schock“, auch die Schulden sind kräftig gestiegen – weltweit, auf mittlerweile schwindelerregende Niveaus. Die drei Grafiken auf der folgenden Seite dokumentieren das.

Im Großen und Ganzen bedeutet das: Die Schulden müssen irgendwie bezahlt werden, ohne dass die Schuldner irgendwann unter ihrer Last zusammenbrechen. Und das geht nur, wenn die Schulden auch bezahlbar bleiben, also die Zinsen, der Preis für das geliehene Geld, vergleichsweise niedrig bleibt. Was würde wohl in vielen Euro-Staaten passieren, wenn die EZB ihren Leitzins auf drei, vier oder fünf Prozent anheben würde? Oder in den Unternehmen? Oder beim Häuslebauer im Stuttgarter Umland, der sein Baudarlehen, abgeschlossen zu weniger als einem Prozent Zinsen, in Kürze verlängern muss – dann aber nicht mehr zu einem, sondern zu 2,5 Prozent Zinsen oder noch deutlich schlechteren Konditionen? Meine Frau und ich müssen in drei Jahren „verlängern“. Wir hatten uns schon gefreut, dass sich der Zinssatz dann halbieren würde – von zwei auf ein Prozent. Zumindest sah es Ende vergangenen Jahres noch danach aus. Höchstwahrscheinlich wird es anders kommen.

Lagarde bleibt keine andere Wahl als so zu tun, als hätte die EZB alles im Griff; als gelte noch immer das Primat der Geldwertstabilität gegenüber der Finanzierung von Staatsschulden, die der Notenbank eigentlich untersagt ist. Insofern sind Lagardes Argumentationsversuche zumindest sehr gut nachvollziehbar.

So hatte die EZB-Chefin zunächst darauf verwiesen, dass die Inflationsraten nur vorübergehend überschießen würden, ein temporärer Effekt, wie es so schön hieß, ausgelöst durch unterbrochene Lieferketten infolge der Corona-Pandemie. Seitdem ist einige Zeit vergangen, Wladimir Putins Armee in die Ukraine einmarschiert und die Inflation immer weiter gestiegen. Das Wörtchen „temporär“ hat seine beruhigende Wirkung längst verloren. Jeder Stopp an der Tankstelle, jeder Gang zur Supermarktkasse tut weh. Von der Nachzahlung für die Heizkosten, deren schriftliche Aufforderung irgendwann in unseren Briefkästen stecken wird, gar nicht erst zu reden.

Die Krux mit der Prognose

Seit der Hinweis „temporär“ nicht mehr zeitgemäß erscheint, beruft sich Lagarde auf die Inflationsprognosen ihrer Volkswirte. Die sehen die Teuerungsrate 2024, also schon in knapp zwei Jahren, bei 2,1 Prozent und damit nur hauchdünn über der Marke von zwei Prozent, bei der Notenbanker den Geldwert als „stabil“ bezeichnen. Demnach ist der Inflations-Spuk bald vorbei, löst sich von selbst auf, alles halb so wild! Nur ein wenig durchhalten noch. Wer mag da so recht dran glauben?

Die EZB wirkt ein wenig wie eine Fußball-Mannschaft, die kurz vor Abpfiff knapp hinten liegt, der aber nichts anderes einfällt, als den Ball hoch in den Strafraum zu kicken. Und vorne hilft dann der liebe Gott.

Das Problem ist: Die Notenbanker sitzen in einer Falle, in die sie selbst hineingetappt sind. Ihre Rettungspolitik ist praktisch zum Gewohnheitsrecht geworden. Weil jede (Finanzmarkt-)Krise, nicht nur die großen, sondern auch die etwas kleineren, in den vergangenen Jahrzehnten mit immer mehr Geld, mit immer größeren Hilfspaketen bekämpft, es aber stets versäumt wurde – sobald möglich – zur Normalität zurückzukehren, den Krisenmodus zu beenden. Stattdessen ist die Hilfe der Notenbanker fester Bestandteil einer jeden Investitionsentscheidung geworden, eine Vollkasko-Versicherung gegen Krisen (fast) jeder Art.

Reformer gewinnen keine Wahlen

Von Politikern, Unternehmern, genauso vom Vorstand eines global agierenden Konzerns, dem Mittelständler, Aktionär oder Hauskäufer. Wobei sich Politiker gewöhnlich schneller an günstige Kredite gewöhnen als andere. Ist schließlich nicht ihr Geld, das da ausgegeben wird.

Lagardes Vorgänger, Mario Draghi, und dessen Vorgänger, Jean-Claude Trichet, hatten während der Finanz- und Staatsschuldenkrise stets darauf verwiesen, dass die EZB zwar Zeit kaufen könne; diese Zeit aber von den Regierungen genutzt werden müsse, um Reformen auf den Weg zu bringen. Leider gewinnen Reformer keine Wahlen. Und wenn die Notenbank das Geld ohnehin verschenkt – dann doch besser Wahlen gewinnen! Die EZB, eigentlich Hüterin der Geldwertstabilität, ist auch deshalb zu einer europäischen Schattenregierung „verkommen“. Beide Rollen vertragen sich eigentlich nicht.

Nach der Finanz- und Schuldenkrise kam dann die Pandemie und nach der Pandemie der Krieg in Ukraine. Die EZB musste weiter retten – und weiter. Höhere Rüstungsausgaben der Staaten, Hilfen für die besonders hart von der Energiepreisexplosion betroffenen Privathaushalte. All das muss bezahlt werden.

Wenn sich alle über viele Jahre an die Retterin der letzten Instanz gewöhnt haben, wie soll dann die Entwöhnung gelingen? Zumal eine Generation heranwächst, die gar nicht mehr so recht weiß, wie es ist, wenn der Zins eben nicht bei null oder eins liegt – die großzügige Geldgeschenke als systemgegeben versteht.

Sollte die EZB tatsächlich versuchen, wieder mehr Währungshüterin zu sein als Schattenregierung, wären die Schäden vermutlich verheerend. Für die Solvenz einzelner Eurostaaten, für viele Unternehmen, die Kapital- und Immobilienmärkte.

Christine Lagarde wird das nicht riskieren (wollen). Ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin vermutlich auch nicht. Dann doch lieber den Ball hoch in den Strafraum bolzen – vielleicht hilft ja doch der liebe Gott. Irgendwie. Irgendwann. Bis dahin werden eben die Sparer und Sparerinnen enteignet.

Irgendwer muss die Rechnung schließlich bezahlen.

Der Autor, Yannick Döller, arbeitet als freier Journalist. Dieser Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe der POSITION erschienen.

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