Im Februar 2022 sprach der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz von einer "Zeitenwende", ausgelöst durch den russischen Angriff auf die Ukraine. Doch diese Zeitenwende entpuppt sich zunehmend als multiple Disruption1. Der Begriff “Disruption” hat seinen Ursprung im Lateinischen “disruptio”, was “Auseinanderbrechen” bedeutet. Einst ein medizinischer Fachbegriff, wird er heute oft mit Bezug auf die radikalen Umwälzungen gebraucht, die unsere Welt erschüttern. Disruptionen werden oft von Krisen ausgelöst, die aus massiven Störungen komplexer Systeme entstehen. In der Krise können sich die Spannungen so verschärfen, dass die Disruption zum Zusammenbruch des Systems führt. Die Krise kann aber auch Kräfte freisetzen, die nach dem Zusammenbruch des alten zum Aufbau eines neuen Systems führen. Joseph Schumpeter (1942) nannte den Prozess, in dem aus alten Strukturen durch Innovation neue entstehen, “schöpferische Zerstörung”.
Nach den Umwälzungen durch die Weltkriege in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und dem Untergang des Sowjetimperiums gegen dessen Ende, ist eine neue Zeit multipler Disruptionen angebrochen. Gesellschaftspolitik, Geopolitik und Digitalisierung stehen im Zentrum tiefgreifender Transformationen. Auf diese multiplen Disruptionen sind Deutschland und Europa schlecht vorbereitet. Statt neuer Schöpfung könnte am Ende allein die Zerstörung stehen.
“Newspeak was the official language of Oceania and had been devised to meet the ideological needs of Ingsoc, or English Socialism… The purpose of Newspeak was not only to provide a medium of expression for the world-view and mental habits proper to the devotees of Ingsoc, but to make all other modes of thought impossible.” - George Orwell (1949)
Der Sieg der westlich-liberalen Mächte über das Sowjetimperium Anfang der 1990er Jahre brachte nicht das von Francis Fukuyama proklamierte „Ende der Geschichte“, sondern setzte Kräfte frei, die zu einer großen Bedrohung der westlich-liberalen Gesellschaftsordnung geworden sind. In Frankreich bereitete seit den 1960er Jahren die „postmoderne“ Philosophie den Boden für ein postliberales Verständnis der Gesellschaftsordnung. Die „Erzählungen“ der Moderne, so der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard (1986), setzten auf das Subjekt und die Vernunft als die zentralen Elemente in der Gesellschaft. Doch statt Homogenität herrsche Heterogenität und statt wenigen allgemeinen Prinzipien gelte eine Vielzahl von Weltanschauungen, so Lyotard.
Im Sog der Postmoderne entstanden zunächst an den Universitäten Gesellschaftstheorien wie die „Critical Race Theory“, „Gender Studies“ oder „Postkoloniale Theorie“. In den 2010er Jahren entwickelte sich daraus in Gesellschaft und Politik eine Bewegung, die sich in Anlehnung an einen in den USA der 1930er Jahr geprägten Begriff für die Wachsamkeit gegen Rassendiskriminierung „Woke“ nannte. Im Jahr 2014 griff die „Black-Lives-Matter“ Bewegung den Begriff auf und rückte ihn ins öffentliche Bewusstsein. Dort wurde er erweitert und mit „progressiver linker Politik“, „linker Identitätspolitik“ und einem Bewusstsein für Ungerechtigkeiten, Ungleichheit und Unterdrückung von Minderheiten verknüpft. Die Propagandisten der Bewegung versuchten, mit den Mitteln des „politischen Moralismus“ (Hermann Lübbe, 2019) die „Kulturhoheit“ (Antonio Gramsci, 2012) über die Gesellschaft zu erringen. Dazu bedienten sie sich sozialer, aber auch etablierter Medien (wie in Deutschland dem öffentlichen Rundfunk).
Doch die Untertanen der Möchtegernherrscher über die „Kultur“ rebellierten. Sie wollten sich nicht vorschreiben lassen, was sie essen, wie sie sprechen, wohin und wie sie in den Urlaub fahren oder welche Heizung sie im Keller haben sollten. Die Bevorzugung früher diskriminierter Minderheiten führte zu erneuten Ressentiments gegen diese Gruppen. Kaum begrenzte Immigration von Menschen aus anderen Kulturkreisen nährte die Verschwörungstheorie, die Eliten wollten das ihnen verhasste Volk gegen von ihnen gehätschelte Mündel austauschen.2 Die „anti-woken“ Rebellen stürzten die Kulturherrscher - vor allem in den USA durch zweimalige Wahl von Donald Trump. Aber auch in europäischen Ländern wie Schweden (Jimmie Akesson von den Schwedendemokraten), Niederlande (Geert Wilders) und Italien (Giorgia Meloni) zogen Rebellen in die Regierungen ein.
In den US-Wahlen erhielt Donald Trump letztes Jahr 49,9 Prozent und seine Gegnerin Kamela Harris 48,3 Prozent der Stimmen. Trumps Partei, die Republikaner, gewannen 50,6 Prozent der Sitze im Repräsentantenhaus und 53,0 Prozent der Sitze im Senat. Im Europaparlament wurden 52,1 Prozent der Sitze and Mitterechts-Parteien, 43,6 Prozent an Mittelinks-Parteien vergeben, die restlichen Sitze gingen an verschiedene Splitterparteien. In Europa beschwören etablierte Parteien die nationalsozialistische und faschistische Vergangenheit, um Parteien der politischen Rechten klein zu halten. Doch eine erhebliche Zahl von Wählern empfindet dies als einen weiteren Angriff im Kulturkampf und stärkt diese Parteien aus Protest.
Zwischen den „Woke“ und „Anti-Woke“ Bewegungen droht der klassische, auf die Freiheit und Vernunft der Individuen setzende Liberalismus zerrieben zu werden. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Patrick Deenen, der als intellektueller Vordenker des neuen US-Vize-Präsidenten J.D. Vance gilt, rief kürzlich den Beginn der „postliberalen Ära“ in den USA aus. Die Trump-Administration würde „eine Reihe von Machtstrukturen … zerschlagen, die jetzt vollständig von der progressiven Linken beherrscht werden“, bevor es „eine umfassendere, positivere Neuformulierung der amerikanischen politischen Ordnung“ durch den Trump folgenden Präsidenten geben würde. Dadurch würde sich auch Europa grundlegend ändern. Die europäischen Nationen müssten selbst für ihre Sicherheit sorgen und ernsthaft darüber nachdenken, was eine erfolgreiche politische Ordnung sei. Langfristig sei das heilsam, denn „eine unabhängigere Stellung in der Welt wird für alle europäischen Nationen und vielleicht für Deutschland im Besonderen von Vorteil sein“.3
“With the absorption of Europe by Russia and of the British Empire by the United States, two of the three existing powers, Eurasia and Oceania, were already effectively in being. The third, East Asia, only emerged as a distinct unit after another decade of confused fighting.” - George Orwell (1949)
Mit dem Aufstieg Xi Jinpings zum „unentbehrlichen Führer“ Chinas, Wladimir Putins Bestrebungen zur Wiederherstellung eines Großrussischen Reichs und dem gescheiterten „Arabischen Frühling“ wuchs seit Mitte der 2010er Jahre eine neue Weltordnung heran, die im Vergleich zur Ordnung der Nachkriegszeit eher einer Unordnung oder „Anarchie der Staaten“ (Herfried Münkler, 2021) gleicht. Eine Gruppe von Ländern, angeführt von China, Russland, Nordkorea und Iran, steht dem Westen feindlich gegenüber. Dieser „Anti-Westen“ will mit der Gruppe der sogenannten BRICS-plus Länder andere Nationen wie Brasilien oder Indien gegen den Westen in Stellung bringen. Diese lassen sich dort zwar einbinden und tragen zu einer anti-westlichen Haltung in den Vereinten Nationen bei, doch sind sie opportunistisch genug, um nicht alle Brücken zum Westen abzurechen. Man könnte sie daher als „un-westlich“ statt „anti-westlich“ bezeichnen.
Dem Westen selbst droht mit der Präsidentschaft Donald Trumps die Spaltung. Anders als die US-Regierungen der Nachkriegszeit will die neue Trump-Regierung gegenüber Europa die Rolle des „wohlwollenden Hegemons“ ablegen und auf Distanz gehen. Die „post-liberalen“ Vereinigten Staaten Donald Trumps sehen sich nicht länger in einer „Wertegemeinschaft“ mit Europa, sondern betrachten Europa als eine Mittelmacht, die auf eigenen Füßen stehen sollte. Eine Zusammenarbeit mit der Mittelmacht Europa würde allein unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit stehen. Dabei könnte Europa ökonomisch und als Verbündeter gegen China, dem Hauptgegner der USA, durchaus hilfreich sein. Doch der Nutzen als Verbündeter gegen China würde sich nur ergeben, wenn Europa seine wirtschaftlichen Beziehungen mit China auf das verringerte Niveau der USA schrumpfen würde. Einen ökonomischen Nutzen dürfte die Trump-Regierung wohl nur aus den Beziehungen mit Europa als Lieferant und Kunde von Gütern und Dienstleistungen sehen.
Für den Kampf der USA und Chinas um die globale Vormacht und Russlands um ein Eurasisches Imperium ist Europa denkbar schlecht gerüstet. Innerlich zerstritten und ökonomisch schwach läuft es Gefahr, in diesen geopolitischen Konflikten zerrieben zu werden. Dabei leidet die Europäische Union besonders an den wirtschaftlichen und politischen Krisen ihrer Kernländer Deutschland und Frankreich. Wenn sich die kommende neue Regierung in Deutschland als unfähig zu den notwendigen umfassenden Wirtschaftsreformen erweist, werden Deutschland und Frankreich die Europäische Union gemeinsam in den Niedergang zwingen. Sollte die deutsche Regierung das Land wider Erwarten zu neuer wirtschaftlicher Stärke führen, dürfte der Riss zwischen Deutschland und Frankreich tiefer werden und die früher an der Peripherie des Euroraums lodernde Krise den Kern erfassen. Denn angesichts der dort eingefleischten politischen Blockade würde Frankreich kaum in der Lage sein, zu einem wirtschaftlich wiedererstarkten Deutschland aufzuschließen. Ohne die Möglichkeit einer Wechselkuranpassung könnten durch unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit und steigende Inflation ausgelöste intensive deutsch-französische wirtschaftliche Spannungen schließlich die einheitliche Währung zerreißen.
In der „Anarchie der Staaten“ sind Kriege zur Verfolgung nationaler Interessen wieder möglich geworden, aus der neue Machtkonstellationen hervorgehen könnten. Man kann diese Kriege nicht vorhersagen, aber man muss mit ihnen rechnen. Unter den vielen möglichen Entwicklungen erscheinen drei Besorgnis erregende, aber durchaus realistische Szenarien als am wahrscheinlichsten.
Szenario 1: China greift Taiwan an oder errichtet eine See- und Luftblockade. Die USA reagieren mit der Entsendung von Waffen und Truppen. Ein lokaler Krieg zwischen chinesischen und US-amerikanischen Expeditionskräften kommt in Gang. Die USA fordern, dass Europa China wirtschaftlich boykottiert. Nach mehreren blutigen, aber ergebnislosen Gefechten schrecken die USA und China vor der Eskalation zu einem Atomkrieg zurück und einigen sich auf einen Waffenstillstand. Der Konflikt wird "eingefroren".
Szenario 2: Nach der Unterwerfung der Ukraine marschiert Putin-Russland in Lettland und Litauen ein, um einen Landkorridor nach Kaliningrad zu schaffen. Weißrussische Streitkräfte unterstützen Russland, indem sie in Litauen einmarschieren. Polen greift Russland und Weißrussland an. Russland und Weißrussland besiegen die polnische Armee und die in Litauen stationierten deutschen Truppen. Deutschland unterwirft sich Russland und akzeptiert russische Militärstandorte auf seinem Gebiet (wie zu DDR-Zeiten). Frankreich und das Vereinigte Königreich verstecken sich hinter dem Rhein und dem Ärmelkanal. Sie drohen mit einem Atomkrieg, falls Russland sie angreift. Russland proklamiert "Eurasien", dem sich Ungarn, Österreich, die Slowakei, Tschechien, Rumänien, Serbien und andere freiwillig anschließen. Eurasien erstreckt sich von Sibirien im Osten bis zum Rhein im Westen und von der Grenze zu Skandinavien im Norden bis zu den italienischen Alpen im Süden. Die Schweiz, Italien und Spanien erklären im Einvernehmen mit Russland ihre Neutralität. Die USA betrachten die Neuordnung Europas als eine lokale Angelegenheit, die sie nicht betrifft.
Szenario 3: Die Trump-Regierung besetzt den Panamakanal und Grönland mit US-Militär. Sie erpresst Kanada, den politischen Status eines "freien assoziierten Staates" wie Puerto Rico zu akzeptieren. Europa belegt die USA mit Wirtschaftssanktionen und ein transatlantischer Wirtschaftskrieg beginnt.
Die drei (unter vielen möglichen) Szenarien könnten separat oder vereint wirklich werden. Sie sind nicht zuletzt deshalb beunruhigend, weil es in allen einen klaren Verlierer gibt: Europa und dort insbesondere Deutschland. Ob sie vom „Tail“ in die Mitte der Wahrscheinlichkeitsverteilung rücken, hängt wesentlich davon ab, ob die Ukraine Russland widerstehen kann. Gewinnt die Ukraine, muss Wladimir Putin seine Träume vom russischen Großreich begraben und Xi Jinping seine Absicht, Taiwan zu erobern, überdenken. Möglicherweise bekäme sogar Donald Trump mehr Respekt vor Europa und würde seine geopolitischen Ziele friedlich verfolgen, statt mit Gewalt zu drohen. Wie im kalten Krieg würde der Frieden dadurch gewahrt werden, dass sich die rivalisierenden Mächte gegenseitig in Schach halten.
„(General Purpose Technologies) are once-in-a-generation technologies, like steam power or the internet that touch every industry and every aspect of life. And, in some ways, generative AI might be even bigger.” - Ethan Mollick (2024)
Das Internet und das World Wide Web (WWW) haben unsere Welt in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert. Die Ursprünge dieser Technologien liegen in den Vereinigten Staaten, und amerikanische Unternehmen spielten eine entscheidende Rolle in ihrer Entwicklung und Verbreitung (siehe Box). Auch bei der nächsten Raketenstufe der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz, sind die USA führend.
Der Begriff „Künstliche Intelligenz“ wurde 1956 auf dem „Dartmouth Workshop“ geprägt, der als Geburtsstunde der modernen KI gilt (siehe Tabelle 1 für weitere Meilensteine in der Entwicklung).4 Forscher wie John McCarthy, Marvin Minsky und Claude Shannon legten die Grundlagen der Disziplin. In den folgenden Jahrzehnten konzentrierte sich die KI-Forschung auf Problemlösungsalgorithmen, Expertensysteme und maschinelles Lernen.
US-Universitäten wie MIT, Stanford und Carnegie Mellon gründeten KI-Labore, die bahnbrechende Forschungen durchführten. Die staatliche Förderung durch Organisationen wie DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) spielte eine Schlüsselrolle bei der Finanzierung dieser Projekte. IBM war einer der Pioniere der KI. Der Supercomputer „Deep Blue“ besiegte 1997 den Schachweltmeister Garry Kasparov – ein Meilenstein in der KI-Geschichte. Das Unternehmen war auch führend in der Entwicklung von Expertensystemen und frühen Spracherkennungstechnologien.
Microsoft investierte früh in die KI-Forschung und entwickelte Produkte wie den digitalen Assistenten Cortana. In den letzten Jahren hat Microsoft durch Investitionen in OpenAI (das Unternehmen hinter den GPT-Modellen) eine zentrale Rolle in der Weiterentwicklung von KI gespielt. Google revolutionierte die KI durch seine Suchalgorithmen und später durch den Erwerb von „DeepMind“. Dieses Unternehmen entwickelte KI-Systeme wie AlphaGo, das 2016 den weltbesten Go-Spieler besiegte. Mit TensorFlow, einer Open-Source-Bibliothek für maschinelles Lernen, stellte Google der Forschungsgemeinschaft ein leistungsfähiges Werkzeug zur Verfügung.
Amazon führte KI in den Alltag ein, insbesondere durch „Alexa“, seinen Sprachassistenten, und durch die Optimierung von Logistik und E-Commerce mit KI. Mit AWS (Amazon Web Services) stellt das Unternehmen skalierbare KI-Dienste zur Verfügung, die weltweit genutzt werden. Facebook (Meta) setzte KI ein, um personalisierte Inhalte und Werbeanzeigen zu optimieren. Das Unternehmen investiert intensiv in Forschung zu maschinellem Lernen, Bildverarbeitung und natürlicher Sprachverarbeitung.
OpenAI (gegründet 2015), ein ursprünglich gemeinnütziges Unternehmen mit Sitz in San Francisco, entwickelte einige der fortschrittlichsten KI-Modelle, darunter „ChatGPT 3“ und „ChatGPT 4“. OpenAI trieb die Forschung an allgemein einsetzbaren KI-Systemen voran und machte diese über Plattformen wie die Azure-Cloud von Microsoft zugänglich. Auch Apple setzte KI frühzeitig in seine Produkte ein, etwa durch den Sprachassistenten „Siri“ und fortschrittliche Bildverarbeitung in der Kamera des iPhones. Mit speziellen KI-Chips in seinen Geräten fördert Apple den Einsatz von KI auf Endgeräten (Edge Computing).
Künstliche Intelligenz (KI) hat das Potenzial, die Wirtschaft tiefgreifend zu verändern (Mollick, 2024). Sie kann Bereiche wie Datenanalyse, Kundenservice und Fertigung durch die Automatisierung vieler repetitiver und zeitaufwändiger Aufgaben die Produktivität erheblich steigern kann. Neue Geschäftsmodelle und Dienstleistungen wie selbstfahrende Autos, personalisierte Medizin und intelligente Haushaltsgeräte werden möglich. Neue Arbeitsplätze entstehen und alte fallen weg. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheit dürften zumindest für einige Zeit steigen.
„Behold…the relics of Rome, the image of her pristine greatness! Neither time nor the Barbarians can boast the merit of this stupendous destruction: it was perpetuated by her own citizens, by the most illustrious of her sons.” - (Francesco Petrarca)5
Ob Disruptionen zur schöpferischen oder allein zur Zerstörung führen, hängt wesentlich davon ab, wie flexible die Strukturen des von der Disruption erfassten Systems sind. Sind die Strukturen hochgradig starr, ist Anpassung unmöglich und die Disruption führt zur Zerstörung, wenn ihr Druck die Widerstandsfähigkeit des Systems übersteigt. Eine Möglichkeit, die Anpassungsfähigkeit einer Wirtschaft zu beurteilen, besteht darin, ihre Reaktion auf vergangene Disruptionen zu untersuchen, die sie überlebt hat.
Grafik 1 zeigt die Entwicklung der Arbeitsproduktivität (gemessen als reale Bruttowertschöpfung je Beschäftigtem) in den USA und den 27 Ländern der Europäischen Union seit 1995. In diesem Zeitraum wurden beide Wirtschaftssysteme von zwei mit Krisen verbundenen Disruptionen erfasst. In den Jahren 2007-08 erschütterte die Banken- und Finanzkrise in den westlichen Industrieländern, in den Jahren 2020-23 die globale Coronapandemie die Systeme.
In der Finanzkrise führte die Rezession in beiden Wirtschaftsräumen zu einem Rückgang der Produktivität. Der Einbruch war in der EU jedoch größer als in den USA. Auch war die Erholung in der EU schwächer und dauerte länger als in den USA (+6,4 Prozent in den 10 Quartalen bis zum dritten Quartal 2011 in der EU versus +6,7 Prozent in den 8 Quartalen bis zum vierten Quartal 2010 in den USA).6 Insgesamt wuchs die Produktivität von den Spitzenwerten vor bis nach der Finanzkrise mit Jahresraten von 2,3 Prozent in den USA und 0,5 Prozent in der EU.
Nach deutlicher zeigte sich die unterschiedliche Anpassungsfähigkeit der Systeme in der Coronapandemie. Aufgrund der wiederholten Lockdowns fiel die Wirtschaft sowohl in den USA als auch in der EU in die Rezession. Die Politik reagierte jedoch unterschiedlich. Während in den USA beschäftigungslose Arbeitnehmer entlassen wurden und Arbeitslosenunterstützung bekamen, wurden in der EU die Arbeitgeber subventioniert, um Entlassungen zu vermeiden. Folglich stieg in den USA die Produktivität während der Pandemie stark an, da überwiegend weniger produktive Arbeitskräfte ihre Stellung verloren, während sie in der EU absackte, da Arbeitskräfte trotz des Produktionsausfalls ihre Stellen behielten.
Nach Abklingen der Pandemie kehrten die Arbeitskräfte in der EU meist an ihre alten Plätze zurück, während ein erheblicher Teil in den USA neue Stellen fand. Folglich stieg die Produktivität in der EU wieder an, während sie in den USA mit der Rückkehr der weniger produktiven Arbeitskräfte von ihrem vorübergehenden Hoch sank. Insgesamt stieg die Produktivität in der Zeit vom vierten Quartal 2019 bis zum dritten Quartal 2024 mit einer Jahresrate von 1,4 Prozent in den USA und 0,2 Prozent in der EU.
Die Entwicklung der Produktivität im Betrachtungszeitraum spiegelt sich in der Entwicklung der Kapitalerträge in den USA und Deutschland, dem größten Mitgliedsland der EU. In der Finanzkrise brachen die Kapitalerträge in beiden Wirtschaftsräumen ein (wobei der Absturz in den USA noch größer ausfiel als in Deutschland) (Grafik 2). Danach erholten sich die Erträge in den USA auf Niveaus der Vorkrisenzeit, während sie in Deutschland deutlich darunter blieben. Die Coronapandemie hatte in den USA keinen sichtbaren Einfluss auf die Kapitalerträge, während in Deutschland die Erträge auf das niedrigste Niveau seit der Wiedervereinigung fielen und dort verharrten.
Bemerkenswert ist, dass der durch die Geldpolitik bewirkte Zinsverfall in den USA nicht zum Entstehen einer „Zombie-Wirtschaft“ mit niedrigem Produktivitätswachstum geführt hat, wie es nach dem Platzen der „Bubble Economy“ in Japan Anfang der 1980er Jahre zu beobachten war. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte gewesen sein, dass der Rückgang der Realzinsen auf und zeitweise unter null die von den Unternehmen angestrebten Kapitalerträge nicht erfasste (Grafik 3.) Trotz niedriger Zinsen kam es daher nicht zum Erhalt weniger produktiver Unternehmen und unrentablen Investitionen. Dagegen folgten die realen Kapitalerträge in Deutschland seit der Finanzkrise dem Abwärtstrend der realen Zinsen (Grafik 4).
Mit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts ist eine Zeit der multiplen Krisen und Disruptionen angebrochen. Das erinnert an die zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Damals besiegelte dieses Jahrzehnt den Abstieg der europäischen Staaten als Weltmächte und den Aufstieg der USA. Gegenwärtig zeichnet sich kein erneuter Stabwechsel an der Weltspitze ab. Der wichtigste Grund dafür dürfte sein, dass China aufgrund seiner totalitären und zentralplanerischen Führung die Fähigkeit fehlt, von schöpferischer Zerstörung zu profitieren. Während dort eine alles beherrschende, von einem „unentbehrlichen Führer“ angeführte Partei Volk und Wirtschaft lenkt, regiert in den USA ein „windiger Geschäftsmann“ mit Einflüsterern aus dem techno-libertären Unternehmerlager. Das entspricht zwar nicht dem klassisch-liberalen Anspruch einer regelbasierten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, dürfte aber den zentralplanerisch-bürokratischen und zentralplanerisch-totalitären Führungen Europas und Chinas überlegen sein. Dementsprechend zeigen die Projektionen des Internationalen Währungsfonds einen seit Mitte des letzten Jahrzehnts wieder zunehmenden Anteil der USA am globalen Bruttoinlandsprodukt (Grafik 5)
Bekanntlich wiederholt sich die Geschichte nicht, aber manchmal reimt sie sich. Das Schicksal Europas könnte sich in den kommenden Jahren auf das des antiken römischen Reichs reimen. Wie in Edward Gibbons Meisterwerk und von zeitgenössischen Historikern wie Peter Heather (2007) beschrieben, ging Rom wegen des Unvermögens seiner Bürger und Führung unter, mit den durch die Völkerwanderung grundlegend veränderten Umständen fertig zu werden. Wie damals in Rom triff heute in Europa eine „unwiderstehliche Kraft auf ein unbewegliches Objekt“. Ist das Objekt bewegungsunfähig, wird es zerstört.
Gibbon, Edward (1776-1778): The History of the Decline and the Fall of the Roman Empire, London
Gramsci, Antonio (2012): Gefängnishefte. Herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Argument Verlag, Hamburg.
Heather, Peter (2007): The Fall of the Roman Empire: A New History of Rome and the Barbarians. Oxford University Press, Oxford.
Lübbe, Hermann (2019): Politischer Moralismus: Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft. LIT Verlag, Münster.
Lyotard, Francois (1986): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Passagen Verlag, Wien.
Mollick, Ethan (2024): Co-Intelligence. Portfolio / Penguine, New York.
Münkler, Herfried (2021): Marx, Wagner, Nietzsche – Welt im Umbruch. Rowohlt, Berlin.
Orwell, George (1949): Nineteen Eighty-four. Secker & Warburg, London.
Schumpeter, Joseph (1942): Capitalism, Socialism and Democracy. Routledge, London.
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1 ChatGPT 4 und MS Co-Pilot leisteten Rechercheassistenz. Irrtümer sind dem Autor anzurechnen.
2 Die rechtspopulistische Publizistin Eva Herman verbreitete 2015 in einem Beitrag zur Zeitschrift Compact die Verschwörungstheorie, die Flüchtlingskrise sei das Werk geheimer Eliten, die eine Umvolkung oder eine Zerstörung der Werte des christlichen Abendlandes im Schilde führten (Umvolkung – Wikipedia).
3 Siehe Nach Wahlsieg von Donald Trump - „Wir befinden uns jetzt in einer postliberalen Ära“ | Cicero Online.
4 Siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Dartmouth_workshop.
5 Zitiert nach Gibbon (1776-1778).
6 Die der Finanzkrise folgende Eurokrise von 2010-2012 drückte die Produktivität in der EU erneut vom dritten Quartal 2011 bis zum ersten Quartal 2013.
Verschiedene Fachbegriffe aus der Welt der Finanzen finden Sie in unserem Glossar erklärt.
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