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Ohne Moos nix los

- Julian Marx

Die Schuldengrenzen werden ausgesetzt und die Staatsausgaben steigen rasant. Spielt Geld für die Europäische Union (EU) noch eine Rolle?

Im März 2020 aktivierte die EU-Kommission erstmals die allgemeine Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Dadurch wurden die Maastricht-Kriterien, die eine maximale jährliche Neuverschuldung der EU-Staaten von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und eine Staatsschuldenquote von höchstens 60 Prozent des BIP vorsehen, vorerst außer Kraft gesetzt.

Wobei „vorerst“ ein dehnbarer Begriff ist. Denn pandemiebedingt wurde die Ausweichklausel für die Jahre 2020, 2021 und 2022 gezogen. 2023 sind es die wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs, weshalb die Ausweichklausel weiter in Kraft bleiben wird. Vier Jahre also, in denen die Mitgliedstaaten von den offiziellen Haushaltsregeln befreit wurden.

Die Zwischenbilanz: Ende 2022 haben die EU-Länder Staatsschulden in Höhe von gut 13 Billionen Euro angehäuft. Ein Schuldenberg, der auch in diesem Jahr beliebig weiterwachsen darf. Kennen die Staatsschulden in der EU überhaupt noch Grenzen?

Gute Vorsätze

Immerhin, das Problem (zu) hoher Staatsschulden ist auch in Brüssel angekommen: Nach den Aussagen der EU-Kommission sei eine „Überarbeitung der EU-Fiskalregeln […] in der gegenwärtigen kritischen Phase der EU-Wirtschaft eine dringende Priorität“. Entsprechend soll die öffentliche Verschuldung schrittweise und nachhaltig reduziert werden. Dazu strebt die Kommission eine „Reform des wirtschaftlichen Steuerungsrahmens“ an, wie sie im November vergangenen Jahres verkündete. Glaubwürdig sind solche Bemühungen aber nicht unbedingt, wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt.

Denn die bislang gültigen Maastricht-Kriterien wurden nie ernsthaft durchgesetzt. So konnte Frankreich beispielsweise seit 2002 nur in drei Jahren ein Haushaltsdefizit verzeichnen, das weniger als drei Prozent des BIP betrug. Damit befindet sich die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU in guter Gesellschaft. Spaniens Haushaltsdefizit lag seit 2008 nur in einem Jahr unter der „magischen“ Grenze von drei Prozent des BIP.

In den Pandemiejahren, in denen die EU die Ausweichklausel aktivierte, gab es ohnehin kein Halten mehr. 25 der 27 EU-Staaten fuhren im Jahr 2020 ein Defizit ein, das mehr als 3 Prozent des BIP betrug. 2021 waren es immerhin noch 15 EU-Staaten. Wenn die Einhaltung der heute gültigen Fiskalregeln in vielen Fällen also weder auf nationaler Ebene forciert noch auf EU-Ebene mit Nachdruck eingefordert wurde, warum sollte das zukünftig anders sein?

Besserung in Sicht?

Zwar plant die EU, die Durchsetzungsmechanismen zu stärken. Aber selbst, wenn die Anwendung finanzieller Sanktionen bei einer Abweichung von den Fiskalregeln zukünftig leichter umsetzbar wäre, stellt sich eine weitere Frage: Wie bedrohlich wirken etwaige finanzielle Sanktionen beispielsweise auf ein chronisch defizitäres Frankreich, das im Jahr 2021 mit 12,4 Milliarden Euro der zweitgrößte Nettozahler unter den Mitgliedstaaten war? EU-Kritiker in Frankreich hätten jedenfalls ein gefundenes Fressen, wenn eine Institution, die französische Steuerzahler entscheidend mitfinanzieren, Strafzahlungen gegen ebendiese Steuerzahler verhängen oder ihnen EU-Gelder verweigern würde.

Hinzu kommt, dass die geplante Reform der EU-Fiskalregeln auf mehr nationale Eigenverantwortung setzen möchte. Ob allerdings Staaten, die sich bislang ja ganz bewusst nicht an die Maastricht-Kriterien hielten, angesichts eines höheren Grads an Eigenverantwortung zu mehr Kostendisziplin animiert werden können, ist zumindest fragwürdig.  

Ein Blick in den Spiegel

Während die EU auf der einen Seite nachhaltige Staatsfinanzen einfordert, lässt sich darüber streiten, ob sie ihrerseits mit gutem Beispiel vorangeht. Denn mit dem 2020 beschlossen Aufbauprogramm „Next Generation EU“ hat sie sich selbst erstmals in ihrer Historie eine massive Kreditaufnahme genehmigt. Angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie fiel die Rechtfertigung für das rund 800 Milliarden Euro schwere Aufbauprogramm leicht.

Nichtsdestotrotz brauchte es dafür eine großzügige Auslegung des bestehenden Eigenmittelsystems der EU, um die Schulden später zurückführen zu können. Eine Zusatzvereinbarung war notwendig, die es der EU erlaubt, „vorübergehend“ zusätzliche Mitgliedsbeiträge in Höhe von jährlich bis zu 0,6 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu erheben. Wobei „vorübergehend“ mal wieder ein dehnbarer Begriff ist. Spätestens 2058 sollen dann keine Zusatzbeiträge mehr erhoben werden können. Für Deutschland, das dem EU-Haushalt in 2021 bereits 25,1 Milliarden Euro an Nettobeiträgen beisteuerte, bedeutet das perspektivisch zusätzliche Milliardenbeiträge.

Das Prinzip „Hoffnung“

Die Bemühungen der EU, die Fiskalregeln zu überarbeiten und glaubhaft durchzusetzen, sind grundsätzlich lobenswert. Denn gerade in Zeiten steigender Zinsen schränken hohe Staatsschulden die finanzielle Handlungsfähigkeit der Fiskalpolitik wieder stärker ein. Im Fall der EU lag die Staatsverschuldung mit 85,1 Prozent des BIP zuletzt auf historisch hohen Niveaus. Daher ist eine Konsolidierung der EU-Staatsfinanzen zweifelsfrei wünschenswert.

Ob die geplante Überarbeitung der EU-Fiskalregeln aber tatsächlich eine schrittweise und nachhaltige Reduktion der öffentlichen Verschuldung herbeiführen kann, bleibt fraglich. Denn mit den Maastricht-Kriterien besteht bereits ein Regelwerk, dessen Existenz bei zahlreichen Mitgliedstaaten weder aus der alljährlichen Haushaltsdisziplin noch aus den Staatsschuldenquoten hervorgeht. Auch deswegen sind Zweifel berechtigt, ob zukünftige Sanktionsmechanismen überarbeitete Fiskalregeln tatsächlich durchsetzen könnten.

Vielleicht wird es aber irgendwann einmal gelingen, eine nachhaltige Konsolidierung der EU-Staatsfinanzen politisch herbeizuführen. Oder die anhaltend hohen Inflationsraten sorgen für den nötigen Rückendwind, indem sie die Altschulden entwerten und die Steuereinahmen steigern – und die Schuldenquoten wie von Geisterhand ohne große politische Reformen zurückführen.

Noch ist eine erfolgreiche Konsolidierung der Staatsfinanzen allerdings höchst unsicher. Der Blick zurück macht wenig Mut. Würde sich die „Haushaltsdisziplin“ so wie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten fortsetzen, bliebe wohl nur das Prinzip „Hoffnung“.

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