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Private Rente, Anleihen oder Umkehrhypothek – wie teilt man sich sein Kapital im Alter ein?

Sven Ebert

Erhält man mit 65 Jahren eine Einmalzahlung aus einer Kapitallebensversicherung, ist die eigene Immobilie abbezahlt oder hat man auf andere Art und Weise einen Kapitalstock erzeugt, stellt sich die Frage wie man sich das angesparte Vermögen in der Rentenzeit einteilt. Entscheidend für die Entscheidung sind persönliche Vermögensituation und Anlageziel. Die folgende Studie untersucht verschiedene Möglichkeit der Auszahlung im Rentenalter. Wir beleuchten private Rentenversicherungen, Annuitäten(-pools), Anleihepläne und Umkehrhypotheken.

Wie kann man von angespartem Kapital im Alter leben?

Wer mit 35 Jahren begonnen hat monatlich 120 Euro bei Seite zu legen, erwirtschaftet bei einer Verzinsung von jährlich 5 Prozent bis zum 65. Lebensjahr 100.000 Euro Kapital. Möchte man damit seinen Lebensstandard im Alter (teilweise) sichern, sucht man am besten möglichst hohe, gleichmäßige Auszahlungen, die bis zum Lebensende aufrecht gehalten werden. Den Anlagefokus daher, wie es in der Ansparphase sinnhaft erscheint, auf Aktien zu legen, kann aufgrund der Volatilität in der Auszahlungsphase mitunter zu risikoreich sein. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn wenig Liquidität vorhanden ist, um monatliche Schwankungen der Zahlungen auszugleichen. Auch ein besonders langes Leben bringt Menschen mitunter finanziell in Bedrängnis. Welche Möglichkeiten, gibt es, sich gegen diese Risiken abzusichern?

Rentenversicherungen gegen Einmalbeitrag bei einem Lebensversicherer sind der klassische Weg sich beider Risiken – Kursverluste und Langlebigkeit – zu entledigen. Der Versicherer bezahlt eine lebenslange Rente, die zwar Schwanken kann, aber einen Mindestbetrag nie unterschreitet. Hilfreich für die Rentenhöhe sind Überschüsse aus frühzeitigen Todesfällen im Versichertenkollektiv, welche aufgrund des neuerdings wieder vorhandenen Zinseszins-Effektes den „Langlebenden“ höhere Zahlungen ermöglichen.1 Implizit übernimmt der Versicherer mit der garantierten Mindestrente auch das Anlagerisiko und das kollektive, systematische Langlebigkeitsrisiko. Im Unterschied dazu, erhält der Rentner bei sogenannten Annuitäten-Pools zwar eine lebenslange Rente, bei Veränderungen der Lebenserwartung des Kollektivs oder adverser Entwicklung der Kapitalanlage kann diese aber beliebig weit nach unten angepasst werden.

Wer die Versorgungszahlungen selbst organisieren möchte, hat aufgrund der gestiegenen Zinsen wieder die Möglichkeit, sich mit Inflationsindexierten Staatsanleihen gegen steigende Lebenshaltungskosten abzusichern und von den Kupon- und Kapitalrückzahlungen zu leben. Die Zahlungen versiegen allerdings, sobald die letzte Anleihe fällig geworden und das Kapital vollständig verzehrt ist. Langlebigkeit ist daher nicht versichert. Dafür erben mögliche Nachkommen im Falle einer kürzeren Rentenphase als im Auszahlungsplan für das Kapitalvermögen kalkuliert ein mit der Inflation gewachsenes Restvermögen.

Wer eine (weitestgehend) schuldenfreie Immobilie sein Eigen nennen kann, dem bieten sich noch weitere Möglichkeiten. In Deutschland sind Umkehrhypotheken und Leibrenten, bei welchen der Wert des Hauses in monatlichen Tranchen liquidiert wird, während der Eigentümer es weiter bewohnt, zwar nur ein Nischenprodukt, aber in Amerika ist dieses Produkt durchaus üblich. Ein Blick über den Großen Teich lohnt, um die Möglichkeiten eines funktionierenden Marktes für Deutschland auszuloten.

Wir werden sehen, dass jede der Möglichkeiten ihre Vor- und Nachteile hat. Für den Rentner ist es somit entscheidend sich seine eigene Vermögensituation und seine Anlageziele zu vergegenwärtigen. Ganz entscheidend ist die Frage wieviel Sicherheit er in den monatlichen Zahlungen benötigt.

Die klassische Rentenversicherung gegen Einmalbeitrag

Bin ich als Rentner auf eine garantierte Rente bis zum Lebensende angewiesen und kann mir keine Schwankungen erlauben, dann bieten Rentenversicherungen gegen Einmalbeitrag eine sichere Alternative. Für 100.000 Euro Einmalbeitrag bekommt man aktuell (Stand Januar 2023) garantiert knapp 3.300 Euro jährliche Rente. Das hört sich zunächst sehr wenig an, könnte man doch die 100.000 Euro auch für 30 Jahre sicher anlegen und jedes Jahr (z.B. aus einem Portfolio von Unternehmensanleihen mit geringem Ausfallrisiko) ebenfalls beinahe 3.300 Euro Zins bekommen.2 Im Alter von 95 Jahren hätte man dann noch ein geringes (reales) Restvermögen, das bis zum Tod reichen könnte.

Die Knauserigkeit der Rentenversicherungen hat verschiedene Gründe: Erstens sind die Versicherer verpflichtet, die garantierte Rente mit dem aktuellen gültigen Rechnungszins zu kalkulieren. Dieser traditionell sehr konservativ, also niedrig festgesetzte Zins steht bei derzeit 0,25 Prozent. Ein großer Zins- und Zinseszinseffekt ist so nicht darstellbar. Kalkuliert man jedoch mit den tatsächlichen Überschüssen der Versicherer aus den vergangenen Jahren, welche zwingend zu großen Teilen an die Versicherten weitergegeben werden müssen, aber eben nicht garantiert sind, kann man von einer Rente von 4.700 Euro ausgehen. Dies entspricht bei 30-jähriger Auszahlung dann einem Effektivzins von 2,5 Prozent plus Langlebigkeitsversicherung danach.

Zusätzlich enthalten die Produkte meist auch noch eine garantierte Mindestauszahlungsdauer der Rente von 10 Jahren. Und der Versicherer trägt eben auch das kollektive Langlebigkeitsrisiko. Ein Durchbruch in der Krebsmedizin beispielsweise könnte die Restlebenserwartung sprunghaft ansteigen lassen. Beides gilt es zu berücksichtigen und kostet etwas Rendite.

Annuitäten-Pools als Spielart der privaten Rentenversicherung

Wer eine schwankende Rente verkraften kann, für den bieten Annuitäten-Pools eine interessante Alternative zur klassischen Rentenversicherung. Hier schließen sich mehrere Rentner(-generationen) zusammen und teilen sich das systematische Risiko der Langlebigkeit sowie das Kursrisiko der Kapitalanlage.

Wie bei der Versicherung wird dem einzelnen eine lebenslange Rente garantiert. Sein individuelles Langlebigkeitsrisiko ist abgedeckt. Aber die Höhe der Rente kann variieren. Insbesondere bei risikoreicher Kapitalanlage oder einem Langlebigkeitstrend im Kollektiv, sind Rentenkürzungen möglich. Dafür spart man sich die Risikoprämie für die Garantie einer Mindestrentenhöhe.

Ein Anhaltspunkt für das Potential durch Verzicht auf diese Garantie lässt sich aus Sterbetafeln der Deutschen Aktuarvereinigung abschätzen. In den Tabellen sind die jährlichen Sterbewahrscheinlichkeiten pro Alter aufgelistet. Diese Rechnungsgrundlagen dienen als Basis zur Kalkulation von Lebensversicherungen und unterscheiden in Werte erster und zweiter Ordnung. Die Werte erster Ordnung beinhalten Sicherheitszuschläge und werden verwendet, um eine vorsichtige Kalkulation und damit die Erfüllbarkeit der Garantie auch bei adversen Entwicklungen sicher zu stellen. Mit den Werten zweiter Ordnung erhält man eine „realistische“ Bewertung. Die Differenz gibt also ein Gefühl für die Garantiekosten. Diese betragen, abhängig von der unterstellten Verzinsung ungefähr zehn bis fünfzehn Prozent.3 Statt einer garantierten Rente von 3.300 Euro wie oben berechnet, bekäme der Rentner in einem Annuitäten-Pool von Beginn an eine Rente von ungefähr 3.800 Euro.

Dem gegenüber stehen jedoch mögliche Rentenkürzungen durch systematische Veränderungen der Sterblichkeit und Schwankungen in der Kapitalanlage. So sinkt der Rentenbarwert, das heißt das Kapital, welches benötigt wird, um eine lebenslange Rente der Höhe eins zu bezahlen, bei einer Verzinsung von einem Prozent im Vergleich zu drei Prozent bei einem 65-jährigen Mann von 17,80 auf 14,56.4 Oder anders gesprochen: Mit einem Prozent weniger Kapitalertrag sind rund neun Prozent weniger Rente zu Rentenbeginn des Rentnerdaseins verbunden.

Die Faustformel wirkt aber auch in die andere Richtung. Bei renditeorientierter Kapitalanlage des Annuitäten-Pools sind Rentensteigerungen möglich. Bei einem Kapitalertrag von 5 Prozent erhält man eine Rente von 5800 Euro und liegt damit nochmal über der klassischen Rentenversicherung. Eine solche Kapitalanlage, welche vermutlich nur mit einem Fokus auf Aktien realisierbar ist und daher von Natur aus einer gewissen Volatilität unterworfen ist, kann dann wiederum mit Glättungsmechanismen versehen werden, welche temporäre Schwankungen am Kapitalmarkt ausgleichen. Beispielsweise können die Renten bei einer erwarteten Rendite von fünf Prozent anfänglich mit einer Verzinsung von lediglich vier Prozent kalkuliert werden. Hierdurch entsteht ein Kapitalpuffer. Im folgenden Jahr wird dann das Kapital auf Basis des tatsächlich erwirtschafteten Ertrags durch den Barwert der noch bestehenden Rentenansprüche geteilt. Solange der Quotient zwischen 100 % und 125 % liegt, bleibt die Rente konstant. Andernfalls wird sie nach unten beziehungsweise oben angepasst.

Annuitäten-Pools bieten aufgrund der fehlenden Garantien Chancen hoher Kapitalerträge. Nutzt man die Freiheitsgrade jedoch nicht und ist man in der Ausgestaltung der Kapitalanlage zu vorsichtig, bleiben die Unterschiede zur klassischen Rentenversicherung marginal.5 Für Rentner, die sich gewisse Schwankungen der Zahlungen erlauben und aushalten können, sind mit Risiko in der Kapitalanlage ausgestattete Annuitäten-Pools eine echte Alternative zu klassischen Rentenprodukten. In der Praxis sind sie in Deutschland allerdings ohne Bedeutung, während sie beispielsweise in Schweden Teil der staatlichen Rente sind.6

Inflationsindexierte Anleihen als Alternative

Wie oben erwähnt, sind Inflationsindexierte Anleihen eine Alternative für jemanden, der sein individuelles Langlebigkeitsrisiko selbst tragen will, aber schwankende Rentenzahlungen fürchtet. Bis vor kurzem waren diese Instrumente aufgrund des negativen Realzinses für Privatanleger uninteressant. Nun ist der Realzins wieder positiv und Kaufkraftverluste durch Inflation werden dem Anleger garantiert ausgeglichen. Beim aktuellen Zinsniveau ist der Preis hierfür jedoch der Verzicht auf die Chance realer Kapitalvermehrung.

Im Gegenteil zu einer normalen Anleihe werden inflationsindexierte Papiere am Ende ihrer Laufzeit nicht zum Nennwert zurückbezahlt, sondern mit dem kumulierten Ausgleich für die während der Haltezeit aufgelaufenen Inflation. Bei zwei Prozent Inflation erhält man so bei einem Realzins von null und dreijähriger Laufzeit für 100 Euro eingesetztes Kapital 106,12 Euro zurück. Der jährliche Kupon wird ebenfalls um die Inflationsrate erhöht. Im Falle einer Deflation wird am Ende der Laufzeit mindestens der Nennwert zurückgegeben.

Der Bund hat aktuell fünf inflationsgeschützte Anleihen im Umlauf von denen er zwei als Benchmark-Anleihen ausweist. Diese beiden besitzen einen Kupon von 0,1 Prozent. Beide wurden erstmals 2016 ausgegeben. Die eine läuft im Jahr 2033 aus, die andere endet 2046. Von der erstgenannten wurde am 10. Januar zusätzliches Volumen emittiert. Aufgrund eines Preises über Pari (Stand 24. Januar) beträgt die jährliche reale Rendite hierfür 0,06 Prozent.

Um mit dem anfänglich angenommenen Kapital von 100.000 Euro eine gleichmäßigen Zahlungsstrom zu bauen, benötigt der Rentner jedoch ein Vielfaches an Anleihen, deren Restlaufzeiten gleichmäßig über seine Rentenzeit verteilt sind. Nur so kann er inflationsgeschützt von den Kupons und dem in Tranchen zurückgezahlten Kapital seinen Lebensunterhalt bestreiten. Mit den beiden deutschen Benchmark Anleihen, bekommt er lediglich 2033 und 2046 Kapital zurück. Fündig wird man beim französischen Staat. Aktuell sind 15 Inflationsindexierte französische Staatsanleihen unterschiedlichster Restlaufzeiten im Umlauf. Mit Ausnahme von 2026 läuft bis zum Jahr 2032 jährlich mindestens ein Papier aus. Danach werden in den Jahren 2036, 2040 und 2047 Anleihen fällig. Zusammen mit den beiden deutschen Benchmark-Anleihen, kann man sein Kapital also für fast 25 Jahren in relative konstante jährliche Zahlungen umwandeln.

Vergleicht man die Renditen inflationsindexierter Papiere von real nur wenig über null Prozent mit den oben erwähnten Verzinsungen klassischer Rentenversicherungen, so ist man dieser in der Rentenhöhe ab einer jährlichen Inflation von mehr als 2,5 Prozent überlegen. Sprich: Das von der EZB selbst gesteckte Ziel einer durchschnittlichen Inflation von 2 Prozent müsste dauerhaft knapp verfehlt werden. In jedem Fall bleibt zudem das Risiko der eigenen Langlebigkeit. Entweder man legt hierfür separat zurück oder riskiert auf Grundsicherung angewiesen zu sein, wenn das Kapital aufgezehrt ist.

Reverse Mortgages – in Deutschland ein unvollkommener Markt

Wer mit 65 Jahren Vermögen in Form einer eigenen Immobilie besitzt, für den ergibt sich eine weitere Option für die Rente. In verschiedenen Einkleidungen bleibt das Prinzip dabei stets gleich: Über monatliche Zahlungen wird das in der Immobilie gebundene Kapital liquidiert.

Man unterscheidet in der Praxis im Wesentlichen zwei Modelle: Zum einen kann ein Kredit über einen Teil des Wertes der Immobilie aufgenommen werden, der in monatlichen Raten an den Rentner ausbezahlt wird. Der Kredit ist über die Immobilie abgesichert. Dies ist auch unter dem Namen Umkehrhypothek bekannt. Zum anderen kann das Haus gegen ein lebenslanges Wohnrecht inklusive monatlicher Rente verkauft werden. Dies ist unter dem Begriff Leibrente bekannt. In Deutschland sind beide Möglichkeiten absolute Nischenprodukte. Umkehrhypotheken wurden erstmals 2006 in Deutschland angeboten. Es folgten Produkte verschiedener Anbieter von denen sich aber keines flächendeckend durchsetzen konnte. Schätzungen zu Folge existieren momentan nur 500 bis 1.000 Leibrentenverträge.7

Die Gründe für das derzeit geringe Volumen sind vielfältig: Laut einer Studie des EconPol haben die Anbieter die Langlebigkeit der Versicherten zu bedenken, die das Geschäft nur eingehen dürften, wenn sie begründete Erwartungen haben, länger zu leben als der Durchschnitt.8 Aufgrund des Langlebigkeitsrisikozuschlags werden die Produkte daher teuer angeboten. Für Umkehrhypotheken wurden in der Vergangenheit Effektivzinsen von bis zu zehn Prozent festgestellt, die den Auszahlungsbetrag aus dem Kapitalverzehr für den Schuldner erheblich verringern.9

Auf der Nachfrageseite stehen die Produktkomplexität, das Vertrauen in den Anbieter und die emotionale Bindung an die eigene Immobilie diesen Konzepten im Weg. Fraglich bleibt, welche Marktgröße in Deutschland erwartet werden kann und welcher Prozentsatz davon allein durch die bestehende Produktarmut beziehungsweise die hohen Preise der Produkte „verloren“ geht. Hierfür werfen wir zunächst einen Blick auf die USA, dem weltweit größten Markt für Umkehrhypotheken.

Jährlich werden dort etwa 50.000 „Home equity conversion mortgages“, kurz HECMs, abgeschlossen.10 Dieses 1989 vom U.S. Department of Housing and Urban Development, kurz HUD aufgesetzte Programm ermöglicht Menschen ab dem Alter 62, die im Besitz einer Immobilie sind, diese staatlich gefördert mit einem Kredit zu belasten. Bei der Auszahlung kann der Hausbesitzer zwischen verschiedenen Renten, insbesondere auch einer lebenslangen Auszahlung wählen. Besonderheit des Kredits ist eine Non-Recourse-Klausel. Für die Tilgung des Kredits steht lediglich der Wert des Hauses zur Verfügung. Sollte der Kreditbetrag am Ende den Wert des Hauses übersteigen, haften weder der Immobilienbesitzer noch, im Falle seines Ablebens, die Erben mit zusätzlichem Vermögen. Um die Kreditgeber zu schützen, greift in einem solchen Fall ein staatlicher Versicherungsschutz, der dem Kreditgeber den fehlenden Betrag ersetzt. Hierfür muss der Immobilienbesitzer eine jährliche Prämie von 1,25 Prozent bezahlen. Darüber hinaus greifen weitere Regulierungen. So ist z.B. die Kreditsumme absolut auf 1.089.300 Dollar limitiert und in Abhängigkeit vom Alter anfänglich prozentual auf 39,6 bis 64,4 Prozent des Wertes der Immobilie beschränkt.11

In den USA mildert eine ausgeprägte staatliche Regulierung die von uns in Deutschland identifizierten Risiken. Dieser staatliche Eingriff dient der Vermeidung von Überschuldung im Alter und dem Freimachen von gebundenem Kapital. Der Anteil dieser speziellen Kredite ist im Vergleich zum Gesamtmarkt von Immobilienbeleihungen jedoch verschwindend gering. Die rein privatwirtschaftlichen Kredite gegen Immobilien, sogenannte „Home equity line of credits“ kurz HELOCs, erfreuen sich weit größerer Beliebtheit. Mit 1,12 Millionen ausgegeben Krediten im Jahr 2018 sind sie die populärste Art der Immobilienbeleihung.12 47 Prozent der ausstehenden Kreditsumme entfällt im Jahr 2022 auf Amerikaner ab 60 Jahren.13 Die Zinssätze befinden sich für HECMs und HELOCs in ähnlichen Regionen, aktuell bei durchschnittlich acht Prozent.

Warum sind HELOCs deutlich populärer? Zunächst erlauben HELOCs höhere initiale Beleihungen der Immobilien. Es sind bis zu 85 Prozent des Immobilienwertes möglich.14 Dazu haben sie meist niedrigere Abschlusskosten und sind in unter zwei Wochen abzuschließen. HECMs beinhalten dagegen zwingend ein gesondertes Beratungsgespräch. Der Prozess der Kreditvergabe dauert insgesamt vier bis sechs Wochen. Die staatliche Absicherung gegen Wertverluste der Immobilie sowie eine jährlich mit dem Zinsniveau mitwachsende Kreditlinie der HECMs wiegen dies offenbar nicht auf.

So oder so kann man konstatieren, dass die Beleihung von Immobilien mit Umkehrhypotheken in den USA deutlich weiterverbreitet, ist als in Deutschland. Bei gleicher Popularität und wirtschaftlicher Notwendigkeit müssten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung in Deutschland ungefähr 100.000 neue Kredite dieser Art jährlich zu Stande kommen. Folgt man allerdings der bereits oben erwähnten Studie von EconPol so bleiben von sechs Millionen Haushalten mit schuldenfreier Immobilie und Einwohnern über 65 Jahren nur 400.000 Haushalte insgesamt übrig, die mit ihrem monatlichen Einkommen unzufrieden sind und folglich Bedarf für eine Umkehrhypothek haben.

In früheren Produkten betrug der Mindestwert der Immobilie zur Inanspruchnahme einer Umkehrhypothek 250.000 Euro. Haushalte, die gerne mehr Einkommen hätten und eine solche Immobilie besitzen gibt es laut Umfragen nur 90.000 in Deutschland. Kurzum, in Deutschland scheint Immobilienbesitz fast gleichbedeutend mit weiterem Vermögen beziehungsweise Einkommen im Rentenalter zu sein. Das Haus als einzige Einkommensquelle ist eher die Ausnahme als die Regel. Im Vergleich zu den USA ist der Immobilienbesitz unter Haushalten mit mittleren und niedrigen Einkommen deutlich geringer.15 Zusätzlich verkleinert die mangelnde Produktvielfalt die ohnehin schon überschaubare Nachfrage nochmal um 75 Prozent. Es bleibt ein Nischenmarkt übrig.

Die Nische nutzen Wohltätigkeitsinstitutionen. Die caritative Stiftung Liebenau bietet mit ihrer Immobilienrente zum Beispiel ein Modell an, in dem Haus oder Wohnung, in das Vermögen dieser Stiftung übergehen und das Kapital somit wohltätigen Zwecken zugutekommt.16

Fazit

In Deutschland sind Modelle zum Verzehr des im Erwerbsleben ersparten Kapitals zur Aufbesserung von staatlichen oder betrieblichen Rentenzusagen im Ruhestand unterentwickelt. Dazu beigetragen haben dürfte die lange von der Politik geschürte Illusion, mit den Rentenzusagen könnte der Lebensstandard im Alter erhalten werden (Stichwort: „Die Rente ist sicher.“). Inzwischen ist diese Illusion geplatzt. Rentenzusagen sichern zunehmend nur noch das Existenzminimum. Dagegen hat die Generation der kinderarmen Baby-Boomer, die in der Zeit von 1955 bis 1965 geboren wurden, erhebliches Privatvermögen aufgebaut. Wer im Januar 1955 geboren wurde, ist (wahrscheinlich) schon im September 2020 in Rente gegangen. Wer im Januar 1964 geboren wurde und damit zum geburtenstärksten Jahrgang Deutschlands gehört, kann spätestens 2031 in Rente gehen. Daraus folgt, dass in den kommenden fünf bis zehn Jahren die Nachfrage nach Instrumenten zum Verzehr des angesparten Kapitals im Ruhestand aller Wahrscheinlichkeit nach stark steigen wird.

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