Deutschlands BIP pro Beschäftigten schrumpft seit beinahe sechs Jahren. Das anstehende Ausscheiden der Baby-Boomer aus dem Arbeitsmarkt bis zum Jahr 2030 erhöht den Druck auf die Produktivität und damit auf den gesellschaftlichen Wohlstand. Migration wird den Verlust an Produktivität nicht aufwiegen. Es braucht strukturelle Reformen zur Produktivitätssteigerung.
Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP), der inflationsbereinigte Wert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen, ist in den letzten beiden Quartalen im Vergleich zum Vorquartal gesunken. Wir befinden wir uns damit technisch in einer Rezession. Setzt man das BIP allerdings in Relation zur Zahl der Einwohner in Deutschland, wodurch ein Maß für den Wohlstand entsteht, stellt man fest, dass die Probleme struktureller Natur sind. Das BIP pro Kopf ist im Vergleich zu Beginn des Jahres 2018 rückläufig (Abbildung 1).
Während das nominale BIP insbesondere aufgrund der jüngsten Inflation in den letzten fünf Jahren um 17,8 % stieg, verlor das reale BIP in den letzten beiden Quartalen über 0,6 Prozentpunkte. Es weist nur noch ein Wachstum von 1,1 % im Vergleich zu Anfang 2018 auf. Das reale BIP pro Kopf ist seit dem ersten Quartal 2018 um 0,8 % gefallen. Unser Wohlstand ist zurückgegangen.
Das unterliegende Produktivitätsproblem, ein Rückgang des BIP pro Beschäftigten, wurden jedoch für das reale BIP bisher durch eine Zunahme der Gesamtbevölkerung und der Beschäftigten überdeckt (Abbildung 2).
Die Zahlen der Einwohner und Beschäftigten haben in Deutschland seit 2018 um circa zwei bzw. drei Prozent zugenommen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stieg sogar um sechs Prozent. Wäre die Gesamtbevölkerung so produktiv wie vor fünf Jahren, so hätte das reale BIP ebenfalls um mindestens zwei Prozent steigen sollen und das BIP pro Kopf wäre zumindest konstant geblieben. Da dies aber nicht der Fall ist (vgl. Abbildung 1) lässt sich für Deutschland ein Produktivitätsproblem konstatieren: Das BIP pro Beschäftigten ist rückläufig (Abbildung 3).
Zwar ist die Produktivität, gemessen pro Arbeitsstunde, seit 2018 um 1,4 Prozent gestiegen, die Produktivität gemessen pro Beschäftigten ist aber um 1,45 Prozent gesunken. Die Zahl der gearbeiteten Stunden pro Beschäftigten ist um 2,2 Prozent zurückgegangen ist. Kurz zusammengefasst: Der Einzelne ist weniger produktiv, da er weniger arbeitet und dies nicht durch höhere Effizienz ausgleicht.1
Zusätzlich erzeugt demographischer Wandel bzw. die Alterung unserer Gesellschaft zusätzlichen Druck auf die Wirtschaftsleistung (Abbildung 4).
Während die Gesamtbevölkerung seit 2018 um 2,5 Prozent zunahm, wird sie fortan leicht zurückgehen. Die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter wird mit der Pensionierung der Baby-Boomer dagegen in den nächsten Jahren drastisch sinken. Als Folge steigt die Altersabhängigkeitsrate, das Verhältnis von Menschen über 64 zu Menschen im Alter zwischen 20 und 64.
Kommen heute 36,5 Menschen über 64 Jahre auf 100 Beschäftigte, werden es 2030 bereits 47,5 und 2050 über 58 sein. Bis 2030 ist dies ein Anstieg von 30 Prozent und bis 2050 um fast 60 Prozent. Um diese Verluste an Arbeitskraft durch Effizienzsteigerungen auszugleichen und so unsere Wirtschaftskraft zu erhalten, würden wir bis 2030 pro Jahr durchschnittlich 3,35 Prozent Produktivitätszuwachs pro Erwerbstätigen benötigen. Bis 2050 sind es 1,5 Prozent pro Jahr. In den letzten fünf Jahren lagen wir jedoch bei minus 0,3 Prozent (vgl. Abbildung 3).
Erschwert wird diese Aufgabe durch die Tatsache, dass Gesellschaften mit fortschreitender Alterung auch Innovationskraft einbüßen. Älteren Arbeitnehmer fällt aufgrund ihrer Berufserfahrung meist die Rolle des kritischen Prüfers neuer Ideen zu. Entwickelt werden neue Ideen jedoch vornehmlich von jungen Menschen. Für erfolgreiche Innovation braucht es folglich beide Gruppen. Mit fortschreitender Alterung einer Gesellschaft entsteht ein Ungleichgewicht und der Nachschub an frischen Ideen nimmt ab.2 Zusätzlich finden Unternehmensgründungen tendenziell in jüngeren Jahren statt3, wodurch in alternden Gesellschaften auch die Kommerzialisierung neuer Ideen in geringerem Umfang stattfindet.
Folgt man einer Studie zum Zusammenhang zwischen alternden Gesellschaften und BIP dreier amerikanischer Forscher, deren Daten sich auf die Vereinigten Staaten beschränken, so gehen wir massiven Wohlstandsverlusten durch Alterung entgegen. Ihr Modell zeigt einen Rückgang des BIP pro Kopf aufgrund sinkender Beschäftigungsquoten und dem Rückgang der Arbeitsproduktivität:
“We find that each 10% increase in the fraction of the population ages 60+ decreased per-capita GDP by 5.5%. One-third of the reduction arose from slower employment growth; two-thirds was due to slower labor productivity growth. Labor compensation and wages also declined in response.“4
In Deutschland nimmt der Anteil der Menschen, die 60 Jahre oder älter sind, bis 2030 um circa 16 Prozent und bis 2050 um 26,5 Prozent zu. Der Prognose nach würde das BIP pro Kopf also um neun bzw. 14,7 Prozent geringer ausfallen als ohne demografischen Effekt. Jährlich kostet Demographie uns also ungefähr gut einen Prozentpunkt Wohlstand bis 2030 und circa 0,5 Prozentpunkte bis 2050. Im Vergleich zum durchschnittlichen, jährlichen Wachstum des BIP pro Kopf in den letzten 30 Jahren von etwas mehr als einem Prozent, müssten andere Faktoren die Wachstumsrate bis 2030 verdoppeln, um die Belastung durch die Demografie auszugleichen.
Für das Modell spricht, dass es im Lichte des historischen Befunds von 2018 bis 2023 für Deutschland plausibel erscheint. Der Einfluss des demografischen Effekts in diesem Zeitraum beliefe sich laut Modell auf minus 6,8 Prozent. Zieht man diesen Wert vom durchschnittlichen historischen Wachstum von fünf Prozent (1 Prozent pro Jahr über fünf Jahre) ab, liegt man mit -1,8 Prozent Rückgang des BIP pro Kopf ziemlich nah an dem tatsächlich beobachteten von minus 0,8 Prozent (siehe Abbildung 1). Das zugehörige Narrativ lautet: Die Alterung der Gesellschaft erklärt den Rückgang des BIP pro Kopf fast vollständig. Die Produktivitätseinbußen aus Alterung konnten kaum durch andere Faktoren wie Automatisierungen und Innovationen kompensiert werden.
Auf der anderen Seite basieren Prognosen stets auf aus der Vergangenheit hergeleiteten Annahmen. Neue Entwicklungen wie Fortschritte in der künstlichen Intelligenz oder Robotik können wenn überhaupt nur auf Basis der Vergangenheit geschätzt werden. An diesem Punkt setzt eine positivere Theorie zu Produktivität und BIP pro Kopf an.
Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu hat, zusammen mit seinem Kollegen Pascual Restrepo, versucht die Auswirkungen des demographischen Wandels, genauer die Knappheit von Beschäftigten, auf Automatisierung und Produktivität zu untersuchen. Für ihn steht im Vordergrund, dass die Knappheit von Arbeitskräften ökonomische Anreize zu Automatisierung und insbesondere zum Einsatz von Robotik und künstlicher Intelligenz erzeugt. Vor allem schnell alternde Gesellschaften wie Deutschland, Japan und Südkorea weisen nach seiner Ansicht aufgrund des demographischen Wandels bereits eine besonders hohe Automatisierung der Industrie auf.5 Solche Automatisierungen ermöglichen dann Produktivitätssteigerungen.6
In weiteren Arbeiten beschreibt Acemoglu die Auswirkungen und Rückkoppelungen von Automatisierung mit der Gesamtwirtschaft. In einem sogenannten Task-Based-Modell wird die Automatisierung in verschiedenen Bereichen separat betrachtet und insbesondere das Entstehen neuartiger Arbeitsplätze, Aktivitäten und Industrien in Zeiten von Automatisierungsschüben herausgestrichen. Als historisches Beispiel nennt er die Mechanisierung der Landwirtschaft, welche die Preise für Lebensmittel sinken ließ. Durch die gesunkenen Lebensmittelpreise nahm die Nachfrage nach anderen Produkten zu und es ergaben sich neue Beschäftigungsmöglichkeiten.7
Momentan sieht man rund um die Entwicklung des Algorithmus ChatGPT ähnliche Effekte im Dienstleistungsbereich: Den Beruf des „Prompt Designers“, das heißt eines Menschen, der anderen Menschen dabei hilft, ihre Fragen an den Algorithmus in bestmöglicher Form zu stellen, war vor 6 Monaten wohl nur für wenige vorstellbar.
Ob diese positiven Effekte die negativen demographischen Effekte ausgleichen können, ist unklar. Acemoglu war im Jahr 2017 mit Hilfe eines eigenen Gleichungsmodells zu der These gelangt, dass zwischen der Alterung einer Gesellschaft und dem BIP pro Kopf nicht notwendigerweise ein negativer Zusammenhang besteht. Die Prognose, welcher Effekt überwiegt – Produktivitätseinbuße durch Alterung oder Produktivitätsgewinne durch Automatisierung - hängt von der Kalibrierung der Parameter ab.8 Seitdem ist er dieser Frage jedoch nicht mehr nachgegangen. Unseres Erachtens liegt die Antwort auf diese Frage (noch) nicht abschließend vor und wird in besonderem Maße von den politischen Entscheidungen einer Volkswirtschaft beeinflusst.
Eine Studie der Universität Groningen unterstützt die These, dass der Umgang mit technologischem Wandel entscheidenden Einfluss auf die Auswirkungen des demografischen Wandels besitzt. Bereits im Jahr 2003 wies Forscher, die positiven Auswirkungen des technologischen Fortschritts im Informations- und Telekommunikationssektor in den USA auf die Produktivität nach und verglichen sie mit denen in Europa.9 Neben den direkten Effekten innerhalb der IT-Branche, stellten sie in den USA positive Spillover-Effekte durch die verstärkte Nutzung von IT-Technologien im Handel, der Finanzindustrie und bei unternehmensnahen Dienstleistungen fest und erklärten damit das stärkere Wachstum der US-Wirtschaft im Vergleich zur EU in den Jahren 1995-2001.
Als mögliche Gründe für das Zurückfallen der europäischen Volkswirtschaften werden langsamere Adoption von Informationstechnologie im Vergleich zu den USA und „institutionelle Beschränkungen“ genannt. Bei Acemoglu finden sich Konkretisierungen dieser Ideen: Als Hemmnisse im Zusammenhang mit der Schaffung der für ihn im Hinblick auf Produktivität so entscheidenden neuartigen Wirtschaftsaktivitäten nennt er unter anderem die mangelnde öffentliche Unterstützung von Innovationen durch einen Rückgang der Förderung von Grundlagenforschung. Auch warnt er vor einem Missverhältnis zwischen vorhandenen Qualifikationen und benötigten Qualifikationen von Angestellten.10
Deutschland weist seit 2018 eine schwache Produktivitätsentwicklung auf. Das BIP pro Kopf, das heißt unser Wohlstand geht zurück. Zusätzlich wird die Alterung der Gesellschaft Innovationen und künftiges Wachstum in Deutschland künftig erschweren. Potentiale zur Produktivitätssteigerung, die sich aus Automatisierung und Digitalisierung ergeben könnten, nutzen wir trotz bereits hoher Automatisierungsquoten unserer produzierenden Industrie11 im Dienstleistungsbereich offenbar nur ungenügend. Aber wir haben es selbst in der Hand dies zu ändern. Es sind Änderungen an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Deutschlands nötig. Wir machen im Folgenden Vorschläge.
Deutschland benötigt qualifizierte Zuwanderung, um dem Rückgang der Beschäftigten entgegenzuwirken. Das heißt wir benötigen den Zuzug gut ausgebildeter oder zumindest schnell ausbildungsfähiger Menschen im erwerbsfähigen Alter. Aber in welcher Größenordnung müsste die qualifizierte Zuwanderung jährlich liegen, damit wir als Gesellschaft nicht weiter zu altern?
Kamen im Jahr 2000 noch fünf Erwerbstätige auf einen Altersrentner, so waren es im Jahr 2020 nur noch 2,7 Erwerbstätige. Doch die Generationen der Baby-Boomer, welche nun in Ruhestand gehen, werden dieses Verhältnis bis 2030 auf 1:2 senken. Oder anders ausgedrückt: jedes in Deutschland lebende junge Ehepaar muss dann neben dem eigenen Lebensunterhalt zusätzlich auch noch den Lebensunterhalt eines Rentners miterwirtschaften – eventuell kommt auch noch die Finanzierung der eigenen Kinder dazu. Bis 2050 sinkt das Verhältnis ohne Zuwanderung noch weiter ab. Es wird dann 1:1,5 betragen.
Möchte man den Altersquotienten, das Verhältnis zwischen Altersrentner und Erwerbstätigen, durch Migration konstant halten, bräuchte man bis 2030 im Schnitt jedes Jahr 1,5 Millionen Zuwanderer netto. Bis 2050 sind es rund 900.000.12 Wir bräuchten bis 2050 also jährlich einen Zuzug im Umfang dessen, was die Stadt Köln aktuell an Einwohner aufweist. Und damit die Produktivität nicht sinkt, müssten diese sofort nach der Einwanderung die gleiche Produktivität wie ein bereits in Deutschland Beschäftigter aufweisen.
Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz13, welches eine Vereinheitlichung des regulatorischen Flickenteppichs anstrebt und qualifizierte Zuwanderung fördern soll, ist daher zu begrüßen, zumal der Fachkräftemangel, unter anderem erst kürzlich von den deutschen Wirtschaftsjunioren als Standortproblem identifiziert wurde.14 Es bestehen jedoch ungelöste Probleme in den übrigen Rahmenbedingungen. Aufgrund dieser erscheint ein Verlassen auf Zuwanderung als Lösung unseres Produktivitätsproblems, nicht nur aufgrund der schieren Masse an notwendiger Zuwanderung, unzureichend.
Erstens ist längst ein Kampf um hochqualifizierte Zuwanderer unter den Industrienationen entbrannt und andere Länder bieten bessere Rahmenbedingungen.15 Allen voran Kanada und die USA, aber auch europäische Lander wie Großbritannien, Schweden und Norwegen haben Deutschland in Sachen Attraktivität überholt. Bei Fachkräften, Gründern und Unternehmern liegen diese Länder laut einer jüngsten OECD-Studie vor Deutschland.16 Deutschland ist für Hochqualifizierte nicht erste Wahl.
Die Attraktivität als Einwanderungsland ist eng mit einem geringen Tax-Wedge, also dem, was der Arbeitnehmer aufgrund von Steuern und Sozialabgaben von seinem Gehalt abgeben muss, verknüpft. In Deutschland ist dieser aber so hoch wie in wenig anderen Industrieländer (Abbildung 5).
Klassische Einwanderungslänger wie Australien, Kanada und die USA locken mit Steuern und Abgaben, die sich in Summe auf lediglich 65 Prozent derer von Deutschland belaufen. Auch die für qualifizierte Zuwanderer laut OECD ebenfalls sehr attraktiven Ländern Norwegen und Großbritannien, weisen im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn deutlich geringere Quoten auf. Deutschland liegt mit Schweden zusammen bei Steuern und Abgaben an der Spitze. Schweden weist aber andere Vorteile auf, wie wir gleich sehen werden.
Im Vergleich zu englischsprachigen Ländern bzw. Ländern in denen Englisch zumindest als Zweitsprache etabliert ist, ist die sprachliche Barriere in Deutschland höher. Fachkräfte klagen zudem über fehlende soziale Integration.17 Schweden schneidet hier deutlich besser ab als Deutschland. Zusätzlich mahlen die Mühlen der Bürokratie in Deutschland langsam und erschweren einen reibungslosen Start in die Erwerbstätigkeit.18 Die Wirtschaftsjunioren mahnen in der bereits erwähnten Studie eine Verbesserung der Service-Mentalität in deutschen Behörden an.19
Lediglich für Studenten liegt Deutschland in Sachen Attraktivität noch in der Spitze, genauer auf Platz zwei hinter den USA. Offenbar repräsentieren amerikanische Universitäten, trotz Studiengebühren von 30.000 Euro und mehr pro Jahr, für internationale Studenten den „Gold-Standard“ in Sachen Ausbildung. Deutschland bietet ausländischen Studierenden im internationalen Vergleich aufgrund fehlender Studiengebühren vermutlich ein gutes „Preis/Leistungsverhältnis“.
Studenten erhöhen unsere Produktivität jedoch erst, wenn sie nach ihrem Abschluss im Land bleiben. Fünf Jahre nach dem Studium befindet sich allerdings nur noch jeder zweite ausländische Student in Deutschland. Nach zehn Jahren sind es noch 38 Prozent. Im internationalen Vergleich sind diese Werte relativ gesehen spitze.20 In absoluten Zahlen bedeutet es jedoch, dass auch mittelfristig weniger als die Hälfte der (ehemals) ausländischen Studierenden zum BIP in Deutschland beitragen.
Zweitens stellt unser soziales Netz einen Anreiz für geringqualifizierte Einwanderer da. Während Hochqualifzierte nicht erwarten, staatlichen Leistungen in Anspruch zu nehmen, sichern sie bei den geringqualifizierten Einwanderern deren Lebensstandard ab und erhöhen damit die Attraktivität von Deutschland als Einwanderungsland für geringqualifizierte Menschen. Die Auswirkungen eines solchen asymmetrischen Anreizsystems hat der Ökonom Milton Friedman in einer Rede folgendermaßen beschrieben:
„It is one thing to have free immigration to jobs. It is another thing to have free immigration to welfare. And you cannot have both.”21
Er erklärt dies folgendermaßen: Das für den einzelnen verständliche und rationale Verhalten ein Land mit sozialem Netz bei der Einwanderung zu bevorzugen, ist für dieses Land gesamtgesellschaftlich problematisch. Geringqualifizierte Zuwanderer, welche (teilweise) Sozialleistungen beziehen, lassen die Einkommen aller anderen Gesellschaftsmitglieder gegen den Durchschnittslohn bzw. die dem einzelnen garantierten Sozialleistungen konvergieren, da der Überschuss zur Finanzierung der Sozialleistungen benötigt wird. Am Ende hat jeder Einwohner das gleiche Einkommen, manche mit Arbeit, manche ohne. Wie Friedman selbst zugibt, ist sein Gedankenexperiment überspitzt formuliert. Das Argument ist jedoch logisch korrekt.
Aus den obigen Überlegungen zu folgern, die Alterung der Gesellschaft sei durch (finanzielle) Förderung von mehr eigenem Nachwuchs an Stelle von Migration aufzuhalten, ist kurzfristig völlig unrealistisch und mittelfristig ungewiss. Mit einer Fertilität von 1,53 pro Frau liegt Deutschland deutlich unter den 2,1 Kindern, der Anzahl, die für eine Reproduktion unserer Gesellschaft nötig sind.
Aufgrund der positiven fiskalischen Bilanz eines Kindes von ungefähr 77.000 Euro22 erscheint eine weitere finanzielle Förderung von Nachwuchs Sinn zu ergeben, zumal Unterstützung für Familien – seien es Sach- oder Geldleistungen – mit der Fertilität korreliert.23 Auf der anderen Seite würden positive Produktivitätseffekte 25-30 Jahre auf sich warten lassen und eine Korrelation bedeutet noch keine Kausalität. Vermutlich beeinflussen auch verschiedene soziale Aspekte, persönliche Motive und die grundsätzliche finanzielle Belastung der jüngeren Generationen die Fertilität.24 Japan hat beispielsweise die Unterstützungsleistungen für Familien seit dem Jahr 2000 von 0,5 % des BIP auf 2 % erhöht. Die Fertilität verharrt aber bei ungefähr 1,3.25
Auf der Suche nach weiteren erfolgsversprechenden Maßnahmen, die kurz- und mittelfristig Produktivitätssteigerungen versprechen, lohnt der Blick nach Übersee. Im Gegensatz zu Deutschland konnten die USA ihren Lebensstandard in den letzten fünf Jahren ausbauen, das heißt das BIP pro Kopf steigern:
Dem zu Beginn erwähnten Rückgang des BIP pro Kopf von 0,8 % in Deutschland steht ein Zuwachs von mehr als 7,5 Prozent in den USA gegenüber. Die Ursache hierfür liegt sowohl im BIP pro gearbeitete Stunde als auch in der geringeren Zahl gearbeiteter Stunden pro Einwohner. Abbildung 7 vergleicht Deutschland in beiden Kategorien relativ mit den USA, wobei die USA auf 100 Prozent normiert sin
Beim BIP pro Stunde konnten wir zwischen 2010 und 2018 fast aufschließen, stagnieren seitdem aber gemittelt auf einem leicht geringeren Niveau. Das heißt, eine Stunde Arbeit in Deutschland erzeugt nicht mehr Wohlstand als eine Stunde Arbeit in den USA. Für den Gesamtoutput pro Einwohner ist die Leistung pro Stunde mit der Arbeitszeit pro Einwohner zu multiplizieren. Und hier liegt Deutschland mehr als 15 % unter den USA. Wir arbeiten also nicht besser, dafür aber kürzer.
Schaut man auf Stunden Arbeit pro Beschäftigten so ist der Unterschied, auch aufgrund der höheren Teilzeitquoten, in Deutschland noch deutlicher. In Deutschland liegt die Jahresarbeitszeit bei 1341 Stunden pro Beschäftigten und in den USA bei 1811 Stunden.26 Mehr Arbeit übersetzt sich nicht automatisch in mehr Output. Aber unter Beachtung von Abbildung 7 wirkt die aktuelle Forderung aus Teilen der Gesellschaft nach einer flächendeckenden 4-Tage Woche wenig zielführend. Die Tatsache, dass die Reduzierung der Arbeitszeit auch auf Unternehmensseite teilweise Zustimmung findet, deutet darauf hin, dass aufgrund hoher Lohnstückkosten, das heißt die auf die Produktivität normierten Lohnkosten, eine schleichende Verlagerung der unternehmerischen Tätigkeit ins Ausland im Gange ist. Die USA liegen hier 26 Prozent unter Deutschland.27
Wir sollten also grundsätzlich eine Ausweitung der Arbeitszeit anstreben. Größtes Potential in Deutschland scheint die Gruppe der Mütter zu bieten. Bei 75 Prozent aller Ehepaare mit Kindern unter 15 Jahren arbeitet die Mutter lediglich in Teilzeit.28 In drei von vier Fällen ist die familiäre Betreuung der Grund für die Teilzeit.29 Insbesondere sind also Investitionen in eine Ausweitung des Betreuungsangebot für Kinder und Jugendliche angezeigt. Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung betrachten wir im nächsten Abschnitt detailliert.
Deutlicher als beim BIP pro Stunde sind uns die USA bei der Total Factor Productivity (TFP) voraus. Die TFP misst den nicht direkt auf die Faktoren Arbeit oder Kapital zurückgehenden Teil der Entwicklung des BIP. Es dient daher als Approximation für den technologischen Wandel und die Innovationsfähigkeit einer Wirtschaft. Vorteile in dieser Kennzahl deuten auf einen höheren technischen Fortschritt der Produktionsprozesse hin, was sich positiv auf die Produktivität pro gearbeitete Stunde niederschlägt. In Abbildung 8 ist die historische Entwicklung Deutschlands relativ zu den USA dargestellt
Nachdem Deutschland von der Nachkriegszeit bis zur Jahrtausendwende durch einen stetigen Aufwärtstrend zu den USA aufschließen konnte, sehen wir seit gut 20 Jahren einen kontinuierlichen Rückgang. Ein solches Phänomen trat davor nicht auf. Es ist offenbar zu einer Trendumkehr gekommen.
Dieser Befund stützt zum einen die einleitende These, dass alternde Gesellschaften an Innovationskraft verlieren: Der demographische Wandel setzte in Deutschland bereits 2005 ein, während er die USA erst 2015 erreichte und sich dort zusätzlich auf einem niedrigeren Niveau vollzieht.
Zum anderen schreibt dies aber auch die Erkenntnisse aus der Studie der Universität Groningen (s.o.) fort. Langsame Adoption neuer IT-Technologien und „institutionelle Beschränkungen“, welche den geringen Spillover-Effekten des IT-Booms in Europa zwischen 1995 und 2001 zu Grunde lagen, scheinen sich in Deutschland in der Folge fortgesetzt und auf weitere Wirtschaftszweige ausgeweitet zu haben.
Hierzu passt, dass die TFP im Untersektor „Öffentliche Dienstleistung, Erziehung, Gesundheit“ zwischen 2010 und 2022 minus 2,2 Prozentpunkte betrug.30 Es steht zu vermuten, dass die sinkende Produktivität in diesem Bereich auch einen Gap zwischen vorhandener und benötigter Qualifikation Vorschub geleistet hat – einem von Acemoglu benannten Bremsschuh der Produktivität. Zusätzlich kann man diesen Rückgang auch als Indiz für mangelnde Digitalisierung und fortschreitende Dysfunktionalität im öffentlichen Sektor werten. Es passt ins Bild, dass eine der Hauptforderungen der Wirtschaftsjunioren die konsequente Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung ist.31
Abschließend zeigt ein Vergleich des sogenannten „Inflation Reduction Act“ in den USA mit der Diskussion um das sogenannte Heizungsgesetz in Deutschland exemplarisch wie es um die öffentliche Förderung von Innovationen in den USA und Deutschland bestellt ist. In den USA werden durch steuerliche Förderung, technologieoffen für verschiedene Innovationen im Bereich „saubere“ Energie Anreize geschaffen, das heißt auch Atomkraft und CO2-Abscheidung.33 In Deutschland wird der Zwang zur Verwendung vorgeschriebener Heiztechnologien mit Subventionen abgemildert. Innovationen entstehen so vermutlich eher jenseits des Atlantiks.
Fasst man den Produktivitätsvergleich mit den USA und die Erörterungen zum Thema Migration zusammen bleibt festzuhalten, dass Deutschland gut daran tun würde, sowohl mehr und als auch effizienter zu arbeiten. Hierfür bieten sich vier Stellschrauben an: Erstens muss Deutschland die Steuern und Sozialabgaben senken. Dies macht das Land für qualifizierte Zuwanderer attraktiver, setzt Anreize für eine Ausweitung der Arbeitszeiten in Deutschland und senkt die Lohnnebenkosten. Gleichzeitig sollten die Anreize zur Einwanderung in das Sozialsystem verringert werden.
Zweitens bedarf es einer Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Durch mehr und bessere Betreuungsangebote sollte insbesondere Müttern die vollwertige Teilnahme am Arbeitsmarkt ermöglicht werden. Dies wäre überdies ein Mosaikstein, jungen Paaren die Familienplanung zu erleichtern.
Drittens gilt es sowohl Kinder- und Jugendbildung als auch berufliche Aus- und Weiterbildung zu stärken. Je höher der Grad an Bildung und je breiter die Palette an Fertigkeiten des Einzelnen sind, desto einfacher gelingt die Anpassung an neuartige Tätigkeiten und umso effizienter können bekannte Arbeitsabläufe ausgeführt werden. In der Folge sollte die Effizienz der Arbeit steigen und ein dauerhafter Gap zwischen benötigten und vorhandenen Fertigkeiten verhindert werden.
Viertens bedarf es eines auf ordoliberalen Prinzipien basierenden wirtschaftspolitischen Handels, dass die Angebotsbedingungen verbessert, damit Unternehmensgründungen und -fortführungen sowie die Umsetzung von Innovationen erleichtert werden. Zudem müssen die physische und digitale Infrastruktur in Deutschland deutlich verbessert und bürokratische Hemmnisse abgebaut werden. So können insbesondere die Potentiale neuer Technologien und Automatisierungen, bestmöglich kommerzialisiert werden.
Ob eine Volkswirtschaft, die durch Alterung entstehenden Wohlstandsverluste durch qualifizierte Zuwanderung und technologischen Fortschritt ausgleichen kann, wird die Zeit zeigen. In jedem Fall erscheint der Prozess nicht deterministisch. Vielmehr sieht es so aus, als hätten es einzelne Länder selbst in der Hand.
Für Deutschland ist klar geworden: Entweder schafft die Politik mit einer Agenda 2030 den Aufbruch zu Produktivitätssteigerungen oder der Trend zu Wohlstandseinbußen wird sich fortsetzen. Letzteres bedeutet mangelhafte öffentliche Infrastruktur, schlechtere medizinische Versorgung und gesellschaftliche Verteilungskämpfe. Kurzum ein Land mit wenig Entwicklungsmöglichkeiten für die nachfolgenden Generationen.
Downloads:
1 Durch eine erhöhte Teilzeitquote ist der Rückgang nicht erklärbar. Diese lag 2018 und 2023 bei 29 Prozent. abbIV8d (sozialpolitik-aktuell.de) und EU - Teilzeitquoten nach Geschlecht 2023 | Statista
2 The economist: It’s not just a fiscal fiasco: greying economies also innovate less, 2023.
3 KfW Research: KfW-Gründungsmonitor 2020, Seite 2 und Fußnote 5, 2022.
4 N. Maestas, K. Mullen & D. Powell: The Effect of Population Aging on Economic Growth, the Labor Force and Productivity (nber.org), 2022.
5 D. Acemoglu & P. Restrepo: Demographics and Automation, 2021, Seite 41.
6 D. Acemoglu & P. Restrepo: Robots and Jobs, 2020, Seite 24.
7 D. Acemoglu & P. Restrepo: Artificial Intelligence, Automation and Work, 2018, Seite 7.
8 D. Acemoglu & P. Restrepo: Secular Stagnation? The Effect of Aging on Economic Growth inthe Age of Automation, 2017, Seite 179.
9 R. Inklaar, M. O`Mahony, M. Timmer: ICT and Europe's productivity performance industry-level growth account comparisons with the United States, 2003.
10 D. Acemoglu & P. Restrepo, Automation and new tasks: how technology displaces and reinstates labor, 2019, Seite 20f.
11 Siehe Fußnote 6, Seite 3.
12 Eigene Berechnungen auf Basis von Macrobond, UNDESA, Flossbach von Storch Research Institute
13 Bundesministerium für Inneres und Heimat: Bundestag beschließt Fachkräfteeinwanderungsgesetz, 2023.
14 Wirtschaftsjunioren Deutschland: Ein roter Faden für den Wirtschaftsstandort Deutschland, 2023, Seite 5.
15 Financial Times: Why countries are jostling to attract migrant workers, 2023.
16 OECD: Talent Attractiveness 2023, 2023.
17 Deutsche Welle: Deutschland ist unattraktiv für ausländische Fachkräfte , 2023.
18 Carsten Linnemann: Die ticken die noch richtig!, Seite 25ff, Herder, 2022 und Tagesschau.de: Welche Probleme Ukraine-Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt haben, 2023.
19 Siehe Fußnote 14, Seite 9.
20 Statistisches Bundesamt: Ein Drittel der internationalen Studierenden bleibt langfristig in Deutschland, 2023.
21 Milton Friedman: Free immigration & welfare.
22 M. Werding & H. Hofmann: Die fiskalische Bilanz eines Kindes im deutschen Steuer- und Sozialsystem, 2005, Seite xvii.
23 S. Dörfler-Bolt, & A. Baierl: Entwicklung öffentlicher Ausgaben für Familien in 22 EU-Ländern, 2022, Abbildung 2 und Statista: EU - Fertilitätsraten in den Mitgliedstaaten 2021
24 G. Schnabl & T. Murai: Geldpolitik: Japans große Sozialkrise ist ein Menetekel für Deutschland, 2020.
25 OECD, Macrobond, Weltbank.
26 OECD: Employment - Hours worked - OECD Data, 2022.
27 C. Schröder: Lohnstückkosten im internationalen Vergleich. Kostenwettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie in Zeiten multipler Krisen, Abbildung 1, 2022.
28 Bundeszentrale für politische Bildung: Vereinbarkeit von Familie und Beruf | Datenreport 2021, 2021.
29 WSI der Hans-Böckler-Stiftung: Gründe für Teilzeittätigkeit nach Elternschaft 2019, 2019.
30 Statistisches Bundesamt: VStatistischer Bericht - Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen – 4. Vierteljahr 2022, 2023.
31 Siehe Fußnote 14, Seite 8.
32 Deutschlandfunk: Inflation Reduction Act - Was die EU den Milliarden-Investitionen der USA entgegensetzen will, 2023.
Verschiedene Fachbegriffe aus der Welt der Finanzen finden Sie in unserem Glossar erklärt.
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