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Quertreiber Ungarn

Norbert F. Tofall

Ungarn wurde am 1. Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union. Das heutige europapolitische Handeln der ungarischen Regierung und ihre auffällige Russlandfreundlichkeit trotz Russlands Krieg in der Ukraine führt Ungarn jedoch zunehmend in eine Außenseiterposition innerhalb der EU und NATO. Insbesondere Ungarns Weigerung, Waffenlieferungen an die Ukraine über ungarisches Territorium zu erlauben, haben zusammen mit anderen russlandfreundlichen Positionierungen sogar zu einer Entzweiung von den anderen Visegrad-Staaten Polen, Tschechien und der Slowakei geführt.

Der ungarische Nationalismus dürfte heute zwar nicht die gleiche Sprengkraft wie im 19. und frühen 20. Jahrhundert besitzen, als er das Vielvölkerreich der Habsburger unter enorme Spannungen setzte und die K und K Doppelmonarchie Österreich-Ungarn letztlich sprengte. Das heutige Ungarn ist auf die EU-Milliarden angewiesen und dürfte allein deshalb die EU in absehbarer Zeit nicht verlassen. Aber als Quertreiber dürfte es der EU weiter Schwierigkeiten machen. Diese Rolle teilt es sich mit Polen, aber auf eine ganz andere Weise als dieses Land.

Wieso handelt Ungarn, das sich 1989 als erstes Ostblockland der Sowjetunion und damit Russland entgegenstellte, heute so russlandfreundlich? Schließlich wurde in Ungarn beim paneuropäischen Picknick am 19. August 1989, das von Otto von Habsburg und seiner Paneuropabewegung initiiert wurden, durch das zeitweise Öffnen des Eisernen Vorhangs zu Österreich die erste Fluchtbewegung von DDR-Bürgern ermöglicht, welche die Initialzündung für die folgenden Massenfluchtbewegungen von DDR-Bürgern in den folgenden Wochen bildete. Das andere Handeln der heutigen ungarischen Regierung läßt sich nur verstehen, wenn man die historischen Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg betrachtet.

Ungarn erklärte am 31. Oktober 1918 seine Unabhängigkeit und das Ende der Realunion mit Österreich, wodurch die K und K Doppelmonarchie aufgelöst wurde. Hyperinflation und Wirtschaftskrise zerrütteten das Land. Im Vertrag von Trianon vom 4. Juni 1920 wurde die Sezession von Österreich besiegelt. Das Problem für Ungarn bestand jedoch darin, daß mit dem Vertrag von Trianon zwei Drittel des historischen Territoriums des Königreichs Ungarn an neugegründete Nationalstaaten fielen, weshalb Ungarn den Vertrag von Trianon nur unter Widerspruch unterzeichnete. Es handelte sich um Territorien, die mehrheitlich von Slowaken, Kroaten, Slowenen und Rumänen besiedelt waren. Hierbei handelt es sich unter anderem um Gebiete, die heute Teil der Ukraine sind.

In Ungarn wurden diese Gebietsverluste als nationales Trauma empfunden. Bis zum Jahr 1938 wurden in Ungarn die Flaggen nur auf Halbmast gehißt. Mit den zwei sogenannten Wiener Schiedssprüchen von 1938 und 1940 wurde der Vertrag von Trianon durch die nationalsozialistische Regierung des Deutschen Reiches, mit der sich Ungarn dann verbündete, im Sinne Ungarns geändert. 1945 und 1947 wurde das selbstredend als ungültig erklärt, so daß der Vertrag von Trianon vom 4. Juni 1920 bis heute Gültigkeit besitzt.

Mit dem Beitritt Ungarns zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 sollte sich völkerrechtlich auch eine Infragestellung des Vertrags von Trianon und europapolitisch Gebietsänderungen erledigt haben. Nichtsdestotrotz beging das ungarische Parlament 90 Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrags von Trianon am 4. Juni 2010 zum ersten Mal den „Tag der nationalen Zusammengehörigkeit“, wodurch sich insbesondere die Slowakei provoziert fühlte. Ungarn erhebt zwar bis heute keine Gebietsansprüche, versteht sich aber als Schutzmacht der ungarischen Minderheit in den einst zum Königreich Ungarn gehörenden Gebieten.

Bei der Tagung „100 Jahre Paneuropa“ im November 2022, zu der Karl von Habsburg nach Wien eingeladen hatte, machte mich der langjährige Generalsekretär des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa, Georg Krauchenberg, darauf aufmerksam, daß der russische ultranationalistische Politologe, Philosoph und Geopolitiker Alexander Dugin in den Jahren 2014 und 2015 in Vorträgen in Ungarn und bei einer Veranstaltung der ungarischen Partei Jobbik immer wieder die Revision des Vertrags von Trianon gefordert habe. Dugin habe diese Forderung allerdings mit der Schaffung eines Staates von Ungarn, Rumänien, Serbien, die Slowakei und Österreich verbunden, so daß sich die ungarischen Minderheiten des alten Ungarn in einem gemeinsamen Staat wiederfinden würden. Von ungarischer Seite sei das immer wieder so interpretiert worden, daß Moskau den alten Wünschen Ungarns nach Revision des Vertrages von Trianon positiv gegenüberstünde. Inzwischen sei dieses Gedankengut auch in der Partei Fidesz von Viktor Orban weitverbreitet.

Wie weit dieses Gedankengut in der Fidesz-Partei von Orban tatsächlich verbreitet ist und ob dieses Gedankengut in ganz Ungarn mehrheitsfähig ist, läßt sich derzeit nur schwer abschätzen. Daß Viktor Orban im letzten Jahr mit einem Schal öffentlich aufgetreten ist, auf dem Ungarn in den Grenzen des alten Königreichs Großungarn abgebildet war, ist allerdings alles andere als ein Entspannungssignal. Als Orban noch davon ausging, daß die Ukraine vom russischen Angriff überrannt werden und schnell kapitulieren würde, äußerte er, daß Ungarn diesmal auf der Seite der Sieger stehen müsse. Insgesamt heißt das, daß sich Orbans russlandfreundliche Politik aus historischen Untiefen nährt, welche den ungarischen Nationalismus weiter speisen.

Deshalb wird Ungarn in der Europäischen Union seine Rolle als Störenfried in absehbarer Zeit nicht aufgeben. Da Ungarn jedoch auf die EU-Milliarden aus Brüssel ebenso angewiesen ist wie auf den europäischen Binnenmarkt, dürfte Viktor Orban indes davor zurückschrecken, Ungarn aus der EU zu führen. Und daß Orbans großungarische Träumereien selbst im Falle eines Sieges von Russland in der Ukraine aufgehen werden, ist sehr unwahrscheinlich. Orban und seine Anhänger scheinen sich daher in historische Geistersehereien zu verrennen, die in Schattenreiche führen und von den Realitäten des 21. Jahrhunderts und den eigentlichen ökonomischen Interessen Ungarns ablenken.

Ihre Träumereien sind aber auch ein Zeichen dafür, daß die ungarische Gesellschaft die Komplizenschaft mit Nazideutschland nie wirklich aufgearbeitet hat. Der deutsche Verbrecherstaat wirft immer noch seinen Schatten über Osteuropa, in Ungarn auf die eine, in Polen – wo die amtierende Regierung Ressentiments gegen Deutschland und die EU schürt - auf die andere Weise. Ihre gegenteiligen Positionen gegenüber Russland sowie ihre Probleme mit den mit der EU-Mitgliedschaft verbundenen Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit zeigen, daß beide Länder noch nicht vollständig im 21. Jahrhundert angekommen sind.

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