Als ich mein neues Buch, das zum Jahrestag des Überfalls Russlands auf die Ukraine erschien, im April letzten Jahres begann, gab ich ihm den Arbeitstitel „Merkel – Putin. Zwei Karrieren aus den Ruinen des Sowjetimperiums“. Mein Verlag wollte aber lieber den Titel in Anlehnung an John Irvings Roman in deutscher Übersetzung. Inzwischen gefällt mir dieser Titel besser als mein ursprünglicher Arbeitstitel.
Am 28. Februar veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine Rezension, in der sich der Verfasser mit meiner Absicht befasste, die Zeit vom Mauerfall bis zum Ukrainekrieg vor dem Hintergrund der Biografien der zwei wichtigsten Akteure darzustellen. Die FAZ gab der Rezension die Überschrift „Blind vor Wut auf Angela Merkel“. Der Rezensent gab zwar zu, dass die „politische Analyse in der Präsentation einzelner Details“ stimmen würde, aber nicht „die großen Linien“. Er stellte sich schützend vor Altbundeskanzlerin Angela Merkel und warf mir „Merkel-Bashing“ in einem „schriftstellerischen Duktus“ von „unerschütterlichem Selbstbewusstsein“ vor. Aus dem Vermerk des Verlags, dass ich in dem Buch das generische Maskulinum statt Gendersternchen verwende, erkannte der Verfasser meine „Stoßrichtung“.
Es wäre gut, wenn eine offene, auch kontroverse Diskussion über die „Merkelzeit“ eröffnet würde. Es wäre aber schlecht, wenn diese Diskussion gleich zu Beginn durch die inzwischen leider übliche Verunglimpfung der anderen Seite abgewürgt würde. Aus diesem Grund habe ich in meiner Kolumne in der Welt am Sonntag noch einmal meine Position erläutert. Da nicht alle Leser unserer Analysen die WamS abonniert haben, gebe ich im Folgenden diesen Text wieder:
„Durch einen Spiegel ein dunkles Bild. So würde ich mit den Worten des Apostels Paulus meinen Blick auf die „Merkelzeit“ beschreiben, die Olaf Scholz mit seiner „Zeitenwendenrede“ für beendet erklärte. Das Bild ist dunkel, weil wir mit Angela Merkel eine Zeit der Illusionen und Problemverschleppungen verbinden (müssen). Die Illusion begann damit, dass wir mit dem Fall der Sowjetunion eine Zeit des immerwährenden Friedens und Wohlstands in Europa gekommen sahen. Mochten auch anderswo mörderische Kriege toben, wir sahen uns davon unberührt. Die Regierungszeit von Angela Merkel stand für Abrüstung und den Verfall unserer Wehrfähigkeit. Mit der „Friedensdividende“ nährten wir den Wohlfahrtsstaat.
Die Illusion setzte sich damit fort, dass wir fest daran glaubten, uns feindlich gesinnte Diktaturen und Autokratien könnten mit „Wandel durch Handel“ und „Diskursethik“ nach Jürgen Habermas besänftigt und in unsere Friedenswelt eingegliedert werden. Von Putin-Russland bezogen wir die Energie, mit der wir Güter herstellten, die wir nach Xi-China schickten. Und wir hielten an der Illusion fest, dass der Euro als Krönung des europäischen Einigungswerks alternativlos sein sollte, auch wenn wir für den Erhalt der Einheitswährung Haftungsrisiken von rund 1,7 Billionen Euro übernahmen.
Kaum ein Politiker stand mehr für diese Zeit als Angela Merkel. Der ehemaligen Bürgerin des Sowjetimperiums fiel durch dessen Verfall die Chance zum kometenhaften Aufstieg in die Spitzenpolitik Deutschlands und Europas in den Schoss. Eine ähnliche Karriere aus den Ruinen des Sowjetimperiums gelang nur Wladimir Putin, der zur gleichen Zeit wie Merkel in die Politik einstieg und im gleichen Jahr wie sie die Chefetage der Politik erreichte. Stand Merkel für die Zeit des unechten europäischen Friedens bis zum Ukrainekrieg, verkörpert Putin den Phantomschmerz Russlands nach der Amputation wesentlicher Glieder des Sowjetimperiums.
Das dunkle Bild ist aber auch unser Spiegelbild. Denn Angela Merkel gestaltete nicht die Politik in der Zeit des unechten Friedens, sondern bediente den Wunsch einer bequemen Wohlstandsgesellschaft nach Ruhe und Versicherung aller Lebensrisiken. Sie war lange Zeit die beliebteste Politikerin Deutschlands, weil sie Probleme, deren Lösung anstrengend gewesen wäre, zur Erleichterung aller unter den Teppich kehrte. Erst nach ihrem selbstgewählten Abschied von der Politik wurde sichtbar, was da alles unter dem Teppich steckte: eine verfehlte Energiepolitik, eine zerbröselnde Infrastruktur, eine dysfunktionale Staatsbürokratie, die wehrunfähige Bundeswehr und europäische Schuldenberge mit deutscher Haftung.
Ihr Nachfolger hatte im Wahlkampf noch die Raute gezeigt und bei seinem Amtsantritt versprochen, dass sich „so viel da nicht ändern“ werde. Nur drei Monate später war dieses Versprechen nicht mehr zu halten. Man muss Olaf Scholz zugutehalten, dass er dies sah und rhetorisch mit der Ära Merkel brach. Aber man darf auch nicht übersehen, dass die deutsche Gesellschaft in der neuen Zeit nach der Zeitenwende noch nicht angekommen ist. Das Versagen der früheren Verteidigungsministerin Lambrecht und die Zögerlichkeit von Olaf Scholz bei der Umsetzung seiner „Zeitenwendepolitik“ sind nur die äußeren Zeichen für die Mentalität der in der Merkel-Ära noch immer verwurzelten Mehrheit der Deutschen.
„Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“, heißt es weiter bei Paulus. Nun hängt es von uns ab, wie künftige Historiker über das Deutschland unserer Zeit urteilen werden.“
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