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Werteschwund und Bilanzakrobatik im Eurosystem

Thomas Mayer

Steigende Zinsen haben viele Anleger gerupft und einige Banken zum Wanken oder Fall gebracht. Die größten Verlieren sind aber die Besitzer der größten Anleiheportfolios, und das sind die Zentralbanken. Doch die Zentralbanker können die Verluste verstecken. Solange die Bürger das Versteck nicht entdecken, ist alles gut.

 

Bundesbank mit Lücke

242.130 Millionen Euro schwer war die Bilanz der Deutschen Bundesbank im ersten Jahr, in dem der Euro als Buchgeld eingeführt wurde. Das war 1999. Es gab ein paar Forderungen innerhalb des Eurosystems, ein paar Verbindlichkeiten, traditionell eine Position in Gold, als Gewinn fielen 3,9 Milliarden Euro an.

Für die Öffentlichkeit von Interesse war vor allem dieser Gewinn, den die Bundesbank ganz, oder zumindest in Teilen, an den Bundesfinanzminister überwies und damit in schöner Regelmäßigkeit den Haushalt entlastete.

Mit durchaus üppigen Finanzspritzen aus Frankfurt nach Berlin ist es jedoch vorbei. Für 2022 verbuchte die Bundesbank einen Fehlbetrag von 172 Millionen Euro, der durch die Verminderung der Rücklage auf 3.041 Millionen gedeckt wurde.

Alles im grünen Bereich, so scheint es. Die Bundesbank hat sogar für schlechte Zeiten vorgesorgt. Im Vorgriff auf weitere Verluste hat sie sogenannte Wagnisrückstellungen gebildet. Der Vorratsposten macht gut 19 Milliarden Euro aus. Eine stattliche Summe? Wer denkt, das sei ein ordentlicher Puffer, wird sich voraussichtlich getäuscht sehen.

Denn in der Bundesbank-Bilanz klafft ein Loch, das mehr als die Hälfte so groß ist, wie die gesamte Bilanzsumme nach der Euro-Einführung. Die Lücke beträgt 138.726 Millionen Euro. So viel waren per Jahresende 2022 Wertpapiere am Markt weniger wert als in der Bilanz ausgewiesen.

Lückenkosmetik

Ende 2022 verbuchte die Bundesbank für „geldpolitische Zwecke“ gehaltene Wertpapiere über 1.072.976 Millionen Euro. Diese Papiere stammen aus den zahlreichen Anleiheankaufprogrammen der Europäischen Zentralbank (EZB). Die nationalen Notenbanken sind Diener der EZB und übernehmen für sie Ankauf, Bilanzierung und Finanzierung.

Der Marktwert dieser Papiere lag zum Bilanzstichtag aufgrund der im Verlauf von 2022 gestiegenen Renditen auf Anleihen jedoch bei nur 934.250 Millionen Euro, also 12,9 Prozent niedriger.

Wäre die Bundesbank eine Sparkasse, dann hätte sie – zumindest vorübergehend – wohl ihren Bestand abwerten müssen. Die 359 deutschen Sparkassen hatten zum Jahresende 2022 in ihren Bilanzen jedenfalls hohe Wertberichtigungen auf die von ihnen gehaltenen Papiere vorgenommen und insgesamt 7,9 Milliarden Euro auf Anleihen, Aktien und andere Wertpapiere abgeschrieben. Dank ordentlicher Vorsorge wiesen sie dennoch einen Gewinn aus.

Im Gegensatz dazu zeigt die Bundesbank einen kleinen Verlust vor Abschreibung, der nach Abschreibung zu einem Monsterverlust von 138,9 Milliarden Euro würde. Grund dafür, dass die Bundesbank anders bilanziert als die Sparkassen und andere Banken, ist, dass der EZB-Rat entschieden hatte, zum 31. Dezember 2022 für Wertpapiere aus den diversen Ankaufprogrammen keinerlei Wertberichtigungsbedarf anzunehmen. Denn es werde erwartet, so der Rat, „dass weiterhin alle Zahlungsverpflichtungen aus den in den Beständen der Eurosystem-Zentralbanken enthaltenen Anleihen und Schuldverschreibungen vereinbarungsgemäß geleistet werden“.

Darum geht es aber nicht. Die Sparkassen mussten ihre Wertpapiere auf Marktpreise abwerten, nicht weil Zahlungsausfälle zu befürchten gewesen wären, sondern weil sie einen Beitrag zum Deckungsstock für kurzfristig fällige Verbindlichkeiten wie Sichteinlagen leisten. Es besteht also die Möglichkeit, dass zumindest ein Teil dieser Wertpapiere zur Finanzierung abgezogener Kundeneinlagen zu Marktpreisen verkauft werden muss. Die Silicon Valley Bank lässt grüßen!

Das Eurosystem (die EZB und ihre nationalen Zentralbanken) hat den gewaltigen Posten an Wertpapieren „zu geldpolitischen Zwecken“ gekauft. Man wollte damit die Inflation befeuern. Nun muss man das Inflationsfeuer bekämpfen, indem man diesen Wertpapierbestand wieder abbaut. Eine von der EZB beaufsichtigte Bank hätte diesen Posten folglich zu Marktpreisen statt zu Anschaffungskosten bewerten müssen. Denn er wurde definitiv nicht mit der Absicht angeschafft, bis zur Endfälligkeit gehalten zu werden. Doch als oberste Aufsichtsbehörde über die Banken kann sich die EZB über ihre eigenen Vorschriften zum Bankgeschäft mühelos hinwegsetzen. “Quod licet Jovi non licet bovi” (was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht gestattet), meinten die Römer dazu.

Die Buchung zu Anschaffungskosten – und damit als Anlage bis zur Endfälligkeit – ist darüber hinaus pikant, weil damit auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auf die Stellung des Ochsen heruntergestuft wird. In seinem Urteil zum Public Sector Purchase Programm der EZB vom 5. Mai 2020 hat das Gericht festgestellt, dass „das Halten von Staatsanleihen bis zur Endfälligkeit … ein wichtiger Indikator für eine monetäre Haushaltsfinanzierung“ ist.1

Das Anleihekaufprogramm der EZB sei aber keine solche vertraglich verbotene Staatsfinanzierung, weil unter anderem „Ankäufe begrenzt oder eingestellt und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden müssen, wenn eine Fortsetzung der Intervention zur Erreichung des Inflationsziels nicht mehr erforderlich ist“.2

Die Buchung zu Anschaffungskosten widerspricht jedoch der Notwendigkeit, diese Anleihen bei Bedarf zum Kampf gegen die Inflation vor Endfälligkeit verkaufen zu müssen.

Jetzt zahlt die Zentralbank

„Stasera pago io“, heißt der hinreißende Song von Domenico Mondugno. Die Zentralbanker könnten ihn mitsingen.

Der Bundesbank fällt jetzt zur Last, dass Geschäftsbanken bei ihr um die 30 Prozent der gesamten Euro-Liquidität von insgesamt rund vier Billionen Euro parken. Wurden sie früher mit Negativzinsen darauf geschröpft, erhalten die Banken für diese Gelder nach dem jüngsten Zinslift der EZB drei Prozent an Zins. Das macht für die Bundesbank annähernd 36 Milliarden Euro pro Jahr, die sie schultern muss – einen konstanten Einlagezins der EZB unterstellt.

Der von den nationalen Notenbanken zu zahlende Zinssatz der kurzfristigen Einlagen ist schnell gestiegen. Noch im Frühsommer 2022 lag er bei minus 0,5 Prozent. Währenddessen steigt die Verzinsung längerfristiger Papiere, in die Reinvestitionen fälliger Anleihen fließen, nur langsam. Zinsaufwand- und Zinseinahmen klaffen deshalb immer weiter auseinander, was die Gewinn- und Verlustrechnung der Bundesbank auch in den kommenden Jahren erheblich belasten wird.

Wegen der hohen Inflation und der dadurch bereits notwendigen und künftig gegebenenfalls noch erforderlichen Leitzinserhöhungen würden diese Zinsänderungsrisiken „nun schlagend“, schreibt die Bundesbank. So schlagend, dass die finanziellen Puffer nicht nur aufgebraucht, sondern überstiegen werden dürften.

Das gilt auch für die anderen Notenbanken des Euro-Systems. Noch liegen die Bilanzen des Jahres 2022 nicht überall vor, aber auf Basis der Bundesbank-Ergebnisse lässt sich eine Hochrechnung anstellen.

Lücken auch in Paris, Rom und dem gesamten Eurosystem

Wenn man vereinfacht die Buchwerte des Vorjahres fortschreibt, und wie bei der Bundesbank Verluste von 12,9 Prozent unterstellt, kommt man für die Notenbank in Rom auf eine Lücke zwischen Marktwert und Buchwert von rund 86 Milliarden Euro, in Paris läge diese bei 127 Milliarden Euro.

Das sind realistische Größenordnungen: Bei der Bundesbank waren die Buchwerte 2022 gegenüber dem Vorjahresbilanzstichtag um 4,4 Prozent gestiegen. Diesen Zuwachs für die Banque de France und die Banca d‘Italia ebenfalls angenommen, ergäbe sich eine Lücke zwischen Marktwert und Buchwert der drei größten Notenbanken im Euro-System von insgesamt knapp 360 Milliarden Euro.

Die Lücke ist noch größer, wenn man das gesamte Eurosystem betrachtet. Nach Angaben der EZB hielten alle Notenbanken dieses Systems Ende 2022 Anleihen „zu geldpolitischen Zwecken“ in Höhe von 4.937,2 Milliarden Euro. Bei einem angenommenen Rückgang des Marktwerts von 12,9 Prozent beträgt der Abschreibungsbedarf 636,9 Milliarden Euro. Nach dieser Abschreibung verbliebe dem Eurosystem von den Stillen Reserven (586,4 Milliarden Euro) und dem Eigenkapital (114,6 Milliarden Euro) gerade mal 64,1 Milliarden Euro. Sollten die Zinsen dieses Jahr weitersteigen – wovon man ausgehen muss – wäre das Eurosystem wohl Ende dieses Jahres (technisch) k.o.

Weiterleben nach dem (Pleite-) Tod

Doch anders als für eine übliche Geschäftsbank bedeutet für eine Zentralbank negatives Eigenkapital nicht das Aus. Sie kann auch damit weitermachen. Entscheidend ist dann aber, ob die Bürger dem von der Zentralbank emittierten Geld als Mittel zum Tausch und zur Wertaufbewahrung weiterhin vertrauen.

Dieses Vertrauen hängt auch davon ab, ob das Geld – das eine Verbindlichkeit der Zentralbank darstellt – mit werthaltigen Aktiva gedeckt ist. Ist das nicht der Fall, kann das Vertrauen verloren gehen und das Geld als wertlos erscheinen.

Das Risiko ist besonders groß, wenn der Deckungsschwund mit steigender Inflation einhergeht. Die Inflation ist für heute jedermann unübersehbar, aber noch kann der Deckungsschwund mit entsprechender Bilanzkosmetik verschleiert werden.

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