Einkommens- und Vermögensungleichheit sind in einer Marktwirtschaft selbstverständlich und nützlich. Diese Tatsache wird in den Debatten über die Ausgestaltung des Sozialstaates in Deutschland häufig übersehen oder sogar negiert. Das ist ein folgenschwerer Irrtum. Wachstums- und Innovationspotentiale einer Volkswirtschaft werden nicht erschlossen. Die fehlende gesellschaftliche Dynamik und das Narrativ der ungerechten Gesellschaft können zu einer größeren gesellschaftlichen Spaltung beitragen. Deutschland könnte mehr Ungleichheit vertragen, vorausgesetzt, sie entsteht aus den richtigen Gründen.
Internationale Institutionen wie die OECD, der IWF oder die Weltbank weisen in gewisser Regelmäßigkeit und öffentlichkeitswirksam darauf hin, dass die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen eine große gesellschaftliche Herausforderung darstellt. OECD-Generalsekretär Angel Gurria erklärte im Rahmen einer viel beachteten Studie seines Hauses 2014: “Unsere Analyse zeigt, dass wir nur auf starkes und dauerhaftes Wachstum zählen können, wenn wir der hohen und weiter wachsenden Ungleichheit etwas entgegensetzen.“1 Der ehemalige Chefökonom des IWF Maurice Obstfeld behauptete 2017: „Die gestiegene Ungleichheit (…) hat zu Politikverdrossenheit geführt und auch zu wachsender Skepsis gegenüber den Vorteilen der Globalisierung.“2 Beide Thesen, Ungleichheit ist schlecht für das Wirtschaftswachstum und Ungleichheit vertieft die gesellschaftliche Spaltung, sind in der vorgetragenen Pauschalität nicht richtig. Entscheidend sind in erster Linie die Geltung und gesellschaftliche Akzeptanz marktwirtschaftlicher Prozesse.
Der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wirtschaftswachstum war schon häufig Gegenstand empirischer Untersuchungen. Ein eindeutiges Ergebnis konnte bisher nicht herausgearbeitet werden. Jedenfalls gibt es keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen zunehmender Ungleichheit und abnehmendem Wirtschaftswachstum. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft hat gezeigt, dass der von der OECD unterstellte Zusammenhang unter anderem für Deutschland nicht haltbar ist.3 Auch das ifo Institut ist zu dem Schluss gekommen, dass keinesfalls von einem allgemeinen wissenschaftlichen Konsens weder in der Richtung noch in der Stärke des Effekts von Ungleichheit auf Wachstum ausgegangen werden darf.4
Wichtiges statistisches Maß für die empirischen Untersuchungen über Ungleichheit ist der Gini-Koeffizient. Der Wert liegt zwischen 0 und 1. Je näher ein Wert an der 1 liegt, desto ungleicher sind Einkommen beziehungsweise Vermögen verteilt. Würde der Wert im theoretischen Extremfall bei 1 liegen, würde eine Person das gesamte Einkommen eines Landes beziehen. Als grobe Orientierung kann man davon ausgehen, dass in Ländern, die einen Wert zwischen 0,4 und 0,5 aufweisen, große Ungleichheit vorliegt. Werte zwischen 0,2 und 0,3 gelten als relativ gleichverteilt.
Die Frage, ob mehr Einkommensungleichheit das Wirtschaftswachstum fördert oder schwächt, hängt laut den empirischen Untersuchungen von dem Status Quo der Ungleichheit im jeweiligen Land ab.5 Bei relativ hoher Ungleichheit ist zunehmende Ungleichheit wachstumsschwächend. Bei relativ gleicher Verteilung wirkt sich zunehmende Ungleichheit wachstumsfördernd aus. Graphisch lässt sich die Funktion als eine nach unten geöffnete Parabel beschreiben (Grafik 1). UG* symbolisiert den Punkt, ab dem sich zunehmende Ungleichheit negativ auf das Wachstum auswirkt. In der Literatur wird UG* auf einen Gini-Koeffizienten von etwa 0,35 taxiert.6
Deutschland weist einen Gini-Koeffizienten nach Umverteilung von 0,31 im Jahr 2021 aus und liegt damit etwa im europäischen Durchschnitt (Grafik 2). Dieser Grad der Ungleichheit würde darauf hinweisen, dass in Deutschland und Europa tendenziell zusätzliche Ungleichheit eher wachstumsfördernd wirken könnte.
Ein Gini Koeffizient ist aber keineswegs dazu geeignet, die Ungleichheit eines Landes hinreichend zu beschreiben. Durch die statistische Maßzahl wird nicht beschrieben, wie die Ungleichheit zustande kommt, welche Akzeptanz die Bevölkerung dafür aufbringt und wie hoch der absolute Wohlstand des Landes ist. Diese drei Faktoren bestimmen aber, wie die Ungleichheit letztlich zu bewerten ist.
Fangen wir mit dem wichtigen Faktor des absoluten Wohlstandes an. Ungleichheit hemmt vor allem dann das Wirtschaftswachstum, wenn dadurch das Humankapital eines Landes beeinträchtigt wird. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn der Zugang zu Gesundheitssystem und Bildungsmöglichkeiten vom Einkommen abhängig ist.7 Der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wirtschaftswachstum betrifft damit aber nicht die relative Armut, sondern ist eine Frage der absoluten Armut und der Fähigkeit der Institutionen eines Landes die Grundversorgung zu sichern. Die OECD selbst räumte das in ihrer Studie auch indirekt ein. „No evidence is found that those with high incomes pulling away from the rest of the population harms growth.”8
Insbesondere in westlichen Industrienationen sind die Zugänge zu Bildungs- und Gesundheitssystem unabhängig vom Einkommen gegeben. Unter diesen Umständen kann angenommen werden, dass Ungleichheiten grundsätzlich Anreize für Innovationen und Wettbewerb geben. Im Ordnungsrahmen der Marktwirtschaft führen diese beiden Prozesse zu Belohnungsmechanismen für produktive Tätigkeiten und zusätzliche Kapitalakkumulation für produktive Unternehmen. Die Ressourcenallokation entsprechend der Produktivität und das darauf aufbauende Preissystem sind die unabdingbaren Koordinationsinstrumente einer freien Gesellschaft. Mit anderen Worten, es ist elementar wichtig, dass die Wirtschaftsakteure die Ergebnisse von Wettbewerbsprozessen über Ungleichheiten in Einkommen und Vermögen angezeigt bekommen. Werden diese Ergebnisse jenseits der Absicherung von Grundbedürfnissen verfälscht, entstehen Fehlanreize. Eine Fehlallokation von Kapital ist die logische Konsequenz. Die Folge ist ausbleibendes Wachstum oder fehlgeleitetes Wachstum, das sich in unnötigen Konjunkturschwankungen ausdrückt. Beide Phänomene machen eine Gesellschaft auf Dauer ärmer, als sie sein könnte.
Die tatsächlich gemessene Ungleichheit und die Wahrnehmung, beziehungsweise gesellschaftliche Akzeptanz der Ungleichheit, sind so unterschiedlich, dass es keine signifikante Beziehung zwischen den beiden Größen gibt.9 Nicht die Ungleichheit per se hat einen negativen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum, sondern die Wahrnehmung von Ungleichheit. Die Wahrnehmung von Ungleichheit kann zu sozialen Spannungen führen.10 Politische Kräfte haben einen Anreiz, Ungleichheit zu skandalisieren und damit Wählerstimmen zu gewinnen. In Folge der wahrgenommenen Ungerechtigkeit können weite Teile der Bevölkerung marktwirtschaftliche Institutionen ablehnen und mehr Eingriffe des Staates fordern.11
Die OECD hat die Wichtigkeit der Wahrnehmung von Ungleichheit erkannt und 2021 dazu eine größere Studie herausgebracht. Im Executive Summary wird das Ziel der Studie beschrieben: „In the recovery after the COVID-19 crisis, gathering public support is key to sustain the momentum for reforms that tackle inequalities (…)”12 Die OECD stellt fest, dass der Wunsch nach staatlicher Umverteilungspolitik mit der Sorge über Ungleichheit wächst. Wird die Ursache von Ungleichheit allerdings in persönlichen Anstrengungen gesehen, sinkt der Wunsch nach progressiver Besteuerung. Die Zustimmung zu Umverteilungsmaßnahmen nimmt auch ab, wenn der Eindruck entsteht, die Sozialleistungen sind fehlgeleitet beziehungsweise nicht zielgenau.
Deutschland gehört zu den Ländern, in denen die Ungleichheit relativ gering, aber die Mehrheit der Menschen überzeugt ist, dass die Ungleichheit zu groß ist und der Staat dagegen vorgehen sollte.13 Das könnte auch damit zusammenhängen, dass die Mehrheit der Deutschen die Ungleichheit als wesentlich pessimistischer einschätzen als sie tatsächlich ist.14 Ungleichheit wird zudem häufig in Deutschland gleichgesetzt mit Ungerechtigkeit. Dabei ist der Begriff Gerechtigkeit vielschichtig und darf keineswegs auf Verteilungsgerechtigkeit verengt werden. Auch der Begriff Verteilungsgerechtigkeit selbst darf nicht mit Verteilungsgleichheit gleichgesetzt werden.15 All das passiert aber zu oft in der öffentlichen Debatte und hat negative Konsequenzen.
Damit in Deutschland mehr Innovationen und wirtschaftliche Dynamik stattfinden, braucht es mehr Marktwirtschaft und weniger Umverteilung. Ungleichheit, die im Wettbewerb entsteht, ist wachstumsfördernd. Eine wichtige Rolle spielt die Wahrnehmung von Ungleichheit. Nicht die Ungleichheit selbst sondern die gesellschaftliche Toleranz der Ungleichheit ist in Deutschland der entscheidende Faktor. Die Forderung nach mehr Ungleichheit unterliegt aber einer entscheidenden Einschränkung: Sie muss durch marktwirtschaftliche Prozesse entstehen. Ungleichheit kann nie ein Selbstzweck sein. Es lässt sich zum Beispiel bereits seit längerem beobachten, dass die unkonventionelle Geldpolitik nach der Finanzkrise 2008 zu erheblicher Umverteilung geführt hat, die nicht auf marktwirtschaftlichen Prozessen beruhen.16 Auch die politische Polarisierung lässt sich auf die Geldpolitik zurückführen.17 Die Debatte um die Akzeptanz marktwirtschaftlicher Ungleichheit beginnt bei der Klarstellung, was Marktwirtschaft ist und was nicht.
1 Tagesschau (2014) Größere Kluft zwischen Arm und Reich, siehe: Bericht der OECD : Größere Kluft zwischen Arm und Reich | tagesschau.de
2 Deutsche Welle (2017) IWF: Mehr Steuern gegen Ungleichheit, siehe: IWF: Mehr Steuern gegen Ungleichheit | Wirtschaft | DW | 11.10.2017
3 Kolev, Galina und Niehaus, Judith (2016) Ist Ungleichheit schlecht für das Wirtschaftswachstum? IW-Report 14/2016.
4 Fuest, Clemens et al. (2018) Ungleichheit und Wirtschaftswachstum: Warum OECD und IWF falsch liegen. Ifo – Schnelldienst, 71. Jg., S. 23.
5 Petersen, Thieß (2019) Einfluss der Einkommensungleichheit auf das Bruttoinlandsprodukt, Wirtschaftsdienst, Heft 4, S. 267-271.
6 Ibid., oder auch Kolev, Galina und Niehaus, Judith (2016) Ist Ungleichheit schlecht für das Wirtschaftswachstum? IW-Report 14/2016.
7 Kolev, Galina und Niehaus, Judith (2016) Ist Ungleichheit schlecht für das Wirtschaftswachstum? IW-Report 14/2016.
8 Cingano, Federico (2014) Trends in Income Inequality and its Impact on Economic Growth, OECD Social, Employment and Migration Working Papers, No. 163.
9 Niehues, Judith (2019) Soziale Ungleichheit in Deutschland – Wahrnehmung und Wirklichkeit, ifo-Dresden berichtet, 27, S. 6-11.
10 Alesina, Alberto und Perotti, Roberto (1996) Income Distribution, Political Instability and Investment, in: European Economic Review, Vol. 40, S. 1203−1228.
11 Alesina, Alberto und Rodrick, Dani (1994) Distributive Politics and Economic Growth, in: The Quarterly Journal of Economics, Vol. 109, No. 2, S. 465−490.
12 OECD (2021) Does Inequality matter? Siehe:Does Inequality Matter? : How People Perceive Economic Disparities and Social Mobility | en | OECD.
13 Siehe etwa: Bertelsmann Stiftung (2022) Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland 2022 (bertelsmann-stiftung.de).
14 Niehues, Judith (2019) Soziale Ungleichheit in Deutschland – Wahrnehmung und Wirklichkeit, ifo-Dresden berichtet, 27, S. 6-11.
15 Siehe dazu Kleinheyer, Marius (2022) Das Klischee von der Gerechtigkeit wird aufpoliert, Das Klischee von der Gerechtigkeit wird aufpoliert - Flossbach von Storch (flossbachvonstorch-researchinstitute.com).
16 Schnabl, Gunther (2014) Negative Umverteilungsprozesse und Reallohnrepression durch unkonventionelle Geldpolitik, Wirtschaftsdienst, Heft 11, S. 792 – 797.
17 Tofall, Norbert (2022) Populismus und Inflation – Oder weshalb der Westen ein neues Bretton Woods benötigt, siehe: Populismus und Inflation - Oder weshalb der Westen ein neues „Bretton Woods“ benötigt - Flossbach von Storch (flossbachvonstorch-researchinstitute.com)
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