Die Inflation steigt und die US-Notenbank zieht die Zinsen merklich hoch. Warum hält sich die Europäische Zentralbank (EZB) dann noch zurück?
Monat für Monat verzeichnet die Eurozone neue Inflationsrekorde. Die Leitzinsen belässt die Europäische Zentralbank (EZB) aber unverändert auf allzeittiefen Niveaus. Nicht nur Sparbuchfans stellen sich da wohl die Frage: Wie lange kann die EZB die Inflation noch laufen lassen?
Die Bank of England (BoE) und die norwegische Norges Bank waren die ersten. Schon dreimal haben sie die Leitzinsen angehoben. Auch die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) hat die Nullzinsen hinter sich gelassen und zum ersten Mal seit Ausbruch der Pandemie ihre Sätze angehoben.
Nachdem sich vor allem die coronabedingten Liefer- und Rohstoffengpässe in einer unerwartet hohen Inflationsdynamik niederschlugen, sahen diese Notenbanken dringenden Handlungsbedarf. Denn die Gefahr ist groß, dass sich die gegenwärtigen Inflationsraten auf einem hohen Niveau verstetigen. Alle drei Notenbanken stellten daher weitere Leitzinsanhebungen in Aussicht. Die Mitglieder des Offenmarktausschusses der Fed halten bis Ende nächsten Jahres sogar weitere neun bis zehn Zinsschritte für möglich. Damit würden die US-Leitzinsen im Laufe des Jahres 2023 ein Niveau von mehr als 2,5 Prozent erreichen. Heute rangieren sie in einer Bandbreite von 0,25 bis 0,5 Prozent.
Während vielerorts Bewegung in die Geldpolitik kommt, ist in der Eurozone davon noch wenig zu spüren. Begeht die EZB damit einen Fehler?
Im März 2022 erreichte die jährliche Inflationsrate im Euroraum mit 7,5 Prozent einen neuen Rekordwert seit Bestehen der Eurozone. Die Verbraucherpreise zogen also nochmal an, nachdem die Eurozonen-Inflation bereits im Februar einen Höchstwert von 5,9 Prozent markierte. Damit liegt die Inflation im Euroraum auf einem vergleichbaren Niveau wie im Vereinigten Königreich, wo die Inflation im Februar mit 6,2 Prozent nur unwesentlich höher ausfiel. Auf den ersten Blick überrascht es daher, wenn die BoE bereits drei Zinsschritte vollzogen hat, während die EZB bisher nicht einmal einen Termin für eine erste Zinserhöhung in Aussicht stellte. Ein tiefergehender Blick in die Daten zeigt allerdings, dass an dieser Stelle Äpfel mit Birnen verglichen werden.
Für die Notenbanker zählt nicht nur die aktuelle Inflationsrate. Vielmehr müssen sie sich auch ein Bild darüber machen, wie nachhaltig eine Inflationsentwicklung einzuschätzen ist. Dazu klammern sie die stark schwankenden Energiepreise gerne aus und betrachten nur die sogenannte Kerninflation. Hier zeigt sich, dass die Eurozonen-Inflation bislang deutlich stärker von der Energiepreisentwicklung getrieben wurde als dies in den USA oder im Vereinigten Königreich der Fall ist. Erreichte die Kerninflationsrate in der Eurozone im März gerade einmal 3,0 Prozent, zog sie im Vereinigten Königreich im Februar auf 5,2 Prozent und in den USA sogar auf 6,4 Prozent an (vgl. Grafik).
Auch weitere Indikatoren deuten auf einen höheren Inflationsdruck in den USA und im Vereinigten Königreich hin. So wirkt der Arbeitsmarkt in beiden Ländern deutlich angespannter; Arbeitslosenquoten von jeweils knapp vier Prozent vergleichen sich mit zuletzt durchschnittlich 6,8 Prozent in der Eurozone. Das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale und eines nachhaltig höheren Inflationsniveaus erscheint damit im Euroraum zum jetzigen Zeitpunkt weniger wahrscheinlich als in den anderen beiden Währungsräumen.
Noch gibt es also gute Gründe, warum die EZB, verglichen mit den Notenbanken der USA und des Vereinigten Königreichs, bislang eher zurückhaltend auf die Inflationsdynamik reagiert hat. Wie lange sich die EZB allerdings noch in Zurückhaltung üben kann, ist unklar.
Als die EZB-Präsidentin Christine Lagarde jüngst eine Reduktion der Wertpapierkäufe durch die Notenbank ankündigte, ging sie bereits einen wichtigen Schritt hin zu einer weniger expansiven Geldpolitik. Damit bereitet sie gleichzeitig die Möglichkeit einer ersten Zinserhöhung im dritten Quartal dieses Jahres vor.
Denn ein erster Zinsschritt soll frühestens nach dem Ende der Wertpapierkäufe erfolgen, wie die EZB mitteilte. Wann es jedoch tatsächlich zu einem ersten Zinsschritt kommen wird, kann heute nur schwer beurteilt werden. „Maximale Optionen angesichts maximaler Unsicherheit“ lautet die vorläufige Marschroute, die Lagarde in ihrer jüngsten Pressekonferenz verlauten ließ. Hiermit lässt sich die EZB einen größtmöglichen Handlungsspielraum offen – aus folgenden Gründen:
In der aktuellen Situation sind also mehrere Szenarien denkbar. Die Prognoseunsicherheit und damit die Bandbreite der möglichen Entwicklungen ist groß wie selten zuvor. Für die Notenbanker im Euroraum bleibt die Lage daher misslich: Wenn sie der Inflation glaubhaft entgegentreten möchten, müssten sie mögliche Kollateralschäden in der Wirtschaft akzeptieren.
Die Inflation einfach laufen zu lassen, ist allerdings auch keine überzeugende Option. Schließlich erhöht Nichtstun die Wahrscheinlichkeit dauerhaft höherer Inflationsraten. Ein Dilemma, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt.
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