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Eine für alle(s)

- Philipp Vorndran

Die Europäische Zentralbank ist mehr als „nur“ eine Notenbank; nie zuvor war das deutlicher als heute, im 25. Jahr nach ihrer Gründung. Ist das eher Fluch oder Segen?

Christine Lagarde ist eine erfahrene Politikerin. Die Französin war unter anderem Ministerin für Landwirtschaft und Fischerei sowie für Wirtschaft und Finanzen ihres Landes. Und sie war Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF). Seit November 2019 steht sie der Europäischen Zentralbank (EZB) als Präsidentin vor; einer Institution, die eigentlich gar nicht politisch sein darf, sondern gänzlich unabhängig zu sein hat.

Zumindest in der Theorie. Ihre wichtigste Aufgabe: den Geldwert der Gemeinschaftswährung langfristig stabil zu halten. Die Praxis ist jedoch eine andere: Die EZB ist, entgegen allen Beteuerungen von Politikern und Notenbankern, eben doch eine politische Institution, eine sehr politische sogar – weil sie gar nicht anders kann.

Theorie und Praxis

Weil der Euro vor allem ein politisches Projekt ist, ein sehr gut gemeintes zwar, aber ein nicht sonderlich gut gemachtes. Wir haben des Öfteren an dieser Stelle über die Konstruktionsfehler der Gemeinschaftswährung geschrieben.

Dass eine gemeinsame Währung zwingend eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik vorausgesetzt hätte. Europa also zunächst weiter hätte zusammenwachsen müssen, ehe man eine gemeinsame Währung implementiert.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Wir sind keine renitenten Eurogegner, ganz im Gegenteil: Wir sind überzeugte Europäer! Wer eine gemeinsame Währung will, eine langfristig stabile gemeinsame Währung, der braucht deutlich mehr Europa als das, was wir heute haben. Der muss – nach vorne schauend – deutlich mehr tun für Europa als das, was getan wird.

Die EZB füllt das Vakuum

Das Vakuum, das die Politik hinterlässt, füllt gezwungenermaßen die EZB. Nie ist das deutlicher geworden als während der Finanz- und Schuldenkrise 2011/12 und in den Jahren danach. Es war Mario Draghi, der frühere EZB-Chef und Vorgänger Christine Lagardes, der im Sommer 2012 mit seiner (heute) legendären „What ever it takes“-Rede die Finanzwelt beruhigte. Man werde den Euro retten, sagte Draghi auf dem Höhepunkt der Krise während eines Vortrages in London. „Koste es, was es wolle“ ...

Draghi, der Notenbankchef, vermochte mit nur wenigen, scheinbar beiläufig dahergesagten Sätzen, was keinem Regierungschef zuvor in unzähligen nächtlichen Krisensitzungen gelungen war: Er hatte der Eurokrise etwas entgegenzusetzen!

Ein Versprechen, das in der Folge unterlegt wurde mit gewaltigen Notenbankhilfen, etwa in Form von Anleihekäufen, die mit einer massiven Ausweitung der Notenbankbilanz einhergingen. Die Risikoprämien von Anleihen der hoch verschuldeten Eurostaaten sanken – das Vertrauen in den Euro kehrte allmählich wieder zurück.

Auch wenn Draghi sich in seiner Amtszeit allerlei Kritik gefallen lassen musste – er hat damals die Währungsgemeinschaft gerettet, weil er tat, was in der damaligen Situation notwendig war.

Das Problem an der Geschichte: Draghis Rettungsversprechen wurde in der Folge nur allzu gerne als Vollkaskoversicherung missverstanden. Von Investoren, Konsumenten, nicht zuletzt von Politikern. Wenn in jeder Krise, nehmen wir die Corona-Pandemie als Beispiel, am Ende ohnehin die Notenbank parat steht, um zu retten, indem sie billiges Geld unter die Leute bringt, nimmt das die Last der eigenen Verantwortung.

Gravierender noch, es verändert möglicherweise das eigene Verhalten. Frei nach dem Motto: Was kostet die Welt? Der Mensch ist bequem, er gewöhnt sich an Geschenke – sehr schnell sogar (die Entwöhnung dagegen fällt ihm umso schwerer!). Der rasante Anstieg der (Staats-)Schulden innerhalb der Eurozone ist ein Beleg dafür.

Draghis Appelle an die Regierungschefs der Eurozone, die anfänglichen Hilfen der EZB doch tunlichst als zeitlich begrenzt zu verstehen und die gekaufte Zeit zu nutzen, um Reformen zu verabschieden und so die Eurozone wetterfest zu machen, verpufften – immer wieder. Mit Reformen lassen sich nun mal keine Wahlen gewinnen ...

Die Pandemie als Wendepunkt

Aus der Europäischen Zentralbank ist so ein Versicherungsverein geworden und aus Mario Draghi, dem (Noten-)Banker, ein Politiker. Schattenkanzler der Eurozone wurde er während seiner Amtszeit in verschiedenen Medien genannt.

Das traf es sehr gut, wie ich finde. Passenderweise wechselte Draghi kurze Zeit, nachdem er seinen Dienst bei der EZB quittiert hatte, in die Spitzenpolitik. Am 11. Februar 2021 wurde er als italienischer Premierminister vereidigt. Sein wichtigstes Projekt sollte der Covid-19-Wiederaufbaufonds sein.

Vermutlich hatte Christine Lagarde mit der Übernahme der Amtsgeschäfte 2019 gehofft, Draghis Rettungspolitik einfach so fortführen zu können. Schulden bezahlbar und so die Eurozone zusammenzuhalten. Weiterhin Politikerin sein zu dürfen, auch wenn die EZB und deren Vertreter und Vertreterinnen eigentlich gar nicht politisch sein dürfen. Zu Beginn der Pandemie sah alles danach aus, als würde es genau so kommen.

Heute wissen wir, dass Corona und der schreckliche Krieg Russlands in der Ukraine sowie all deren Auswirkungen, etwa der Bruch globaler Lieferketten, in Kombination mit der jahrelang ultralockeren EZB-Geldpolitik wie ein Brandbeschleuniger für die Inflationsentwicklung gewirkt haben. Die Preise sind so schnell und so stark geklettert wie seit Jahrzehnten nicht mehr!

Die EZB ist seither wieder als Hüterin der Geldwertstabilität gefragt, weniger als großzügige Kreditgeberin. Und Lagarde, die Politikerin, muss wieder mehr Notenbankerin sein.

Lange Zeit hatten sie und ihre Ökonomen bei der EZB darauf gepocht, dass die Inflation nur transitorisch sei, also vorübergehend. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Weil dauerhaft deutlich höhere Inflationsraten (und höhere Zinsen) zu einem echten Problem für die Eurozone und den Euro werden könnten. Also hoffte man, der Spuk sei schnell vorüber. War er aber nicht.

Wie viel Schaden darf sein?

Lagarde und die EZB mussten gegenhalten, die Zinsen anheben, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Das taten sie, wenn auch zunächst zögerlich. Mittlerweile hat die EZB den Leitzins auf 4,25 Prozent gehievt – und damit so hoch wie zuletzt vor dem Ausbruch der Finanzkrise 2008. Lagarde hat zudem weitere Anhebungen in Aussicht gestellt. Ob das reichen wird? Wir werden sehen. Die Inflation ist zwar leicht zurückgefallen, liegt aber immer noch deutlich über dem Zwei-Prozent-Inflationsziel der EZB.

Eine Frage, die sich deshalb viele stellen: Wie weit wird Lagarde gehen können im Kampf gegen die Inflation? Was, wenn es eben nicht reichen wird? Weil die Schäden der rigiden Zinspolitik zu groß werden – einige Staaten Probleme bekommen mit der Refinanzierung ihrer aufgetürmten Schuldenberge. Oder Unternehmen. Oder Millionen von „Häuslebauern“ in der Eurozone.

Das Problem der EZB: Die Eurozone ist, anders als die USA es beispielsweise sind, kein homogener Währungsraum. Das heißt, die EZB muss eine Geldpolitik betreiben, die den Erfordernissen vieler, mithin sehr unterschiedlicher Volkswirtschaften Rechnung trägt. Den starken genauso wie den weniger starken. Die EZB ist eine für alle – und auch eine für alles. Denn sie muss nicht allein die Geldwertstabilität im Blick haben, sondern eben auch die Stabilität des gesamten Eurosystems.

Irgendwann, möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft, wird sich Lagarde entscheiden müssen, was wichtiger ist: der Kampf gegen die Inflation oder das Überleben des Euro. Ich würde davon ausgehen, dass diese Frage längst beantwortet ist. Was immer es auch koste ...

Die Analyse von Philipp Vorndran stammt aus der aktuellen „Position“. Das regelmäßig erscheinende Magazin können sie hier kostenfrei abonnieren.  

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