In den USA agieren die Notenbanker im Kampf gegen die Inflation äußerst entschlossen – aber vor allem geschlossen. Ist diese Einigkeit Fluch oder Segen?
In den USA drängt sich das Gefühl auf, dass es in den vergangenen Jahren nahezu keine Meinungsverschiedenheiten unter den Notenbankern der Federal Reserve (Fed) gab. Zwischen Januar 2020 und Januar 2023 wurden vom Federal Open Market Committee (FOMC), dem wichtigsten Entscheidungsorgan in Sachen US-Geldpolitik, insgesamt 27 (Leitzins-) Beschlüsse gefasst. Nur drei davon fielen nicht einheitlich aus. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum 286 Stimmen abgegeben. Nur vier der 286 Stimmen fielen gegen die jeweiligen Beschlüsse aus.
Im Vergleich dazu wirkt das Abstimmungsverhalten im Vereinigten Königreich geradezu „vogelwild“. Bei den Leitzinsentscheidungen der Bank of England wurden im vergangenen Jahr insgesamt 72 Stimmen abgegeben. 20 davon votierten gegen die jeweiligen Leitzinsentscheidungen. Würde dem US-amerikanischem FOMC, dessen Geldpolitik weltweite Auswirkungen hat, eine derart offen gelebte Debattenkultur nicht auch besser zu Gesicht stehen?
Die Motive der US-Notenbanker für ein derart einheitliches Abstimmungsverhalten sind naheliegend. In der Pandemie galt es, eine Rezession historischen Ausmaßes zu unterbinden. Als sich die Pandemierisiken reduzierten, folgte eine außergewöhnliche Inflationsdynamik, die für große Bevölkerungsteile Neuland bedeutete. Die Geschlossenheit des FOMC, die Inflation um jeden Preis bekämpfen zu wollen, könnte in diesem Marktumfeld eine wichtige Signalwirkung entfaltet haben. Denn glauben die Menschen an den Erfolg der Notenbanker, bleiben die Inflationserwartungen fest verankert und die Wahrscheinlichkeit sich selbstverstärkender Zweitrundeneffekte nimmt ab. Insbesondere Lohnforderungen könnten in der Folge moderater ausfallen.
Gleichzeitig kann ein derart einheitliches Abstimmungsverhalten aber auch Spiegelbild einer geldpolitischen Monokultur sein, in der keine nennenswerten Meinungsverschiedenheiten zwischen den Notenbankern bestehen. Eine einseitige geldpolitische Ausrichtung birgt aber in Zeiten hoher Unsicherheit Risiken. Wie unsicher die heutigen Zeiten sind, belegen nicht zuletzt die Inflationsprognosen der Europäischen Zentralbank: Diese schraubte ihre Inflationsschätzungen für 2023 binnen eines Jahres von 1,8 Prozent auf 6,3 Prozent hoch.
Auch die US-Notenbank war nicht immer vor Fehleinschätzungen gefeit. Am 16. September 2008, und damit einen Tag nachdem die Investmentbank Lehman Brothers pleitegegangen war, blendeten die US-Notenbanker die signifikanten Risiken, die aus dem Finanzsystem resultieren, zwar nicht aus. Sie ließen die Leitzinsen aber unverändert bei zwei Prozent.
Für das dann kommende Jahr 2009 erwarteten sie zu diesem Zeitpunkt bereits wieder anziehendes Wachstum und damit einhergehende Inflationsrisiken. Doch bereits einen Monat später war diese Einschätzung überholt. Im Oktober 2008 senkte das FOMC die Federal Funds Rate auf 1 Prozent und im Dezember dann auf die neu geschaffene Zielbandbreite von 0 bis 0,25 Prozent. Die US-Wirtschaft ist anno 2009 tatsächlich um 2,6 Prozent geschrumpft. Eine Fehleinschätzung wie von September 2008 könnte sich jederzeit wiederholen.
Aktuell befindet sich die US-Notenbank noch im Zinserhöhungsmodus. Am 1. Februar hob sie die Leitzinsen auf eine Bandbreite von 4,5 bis 4,75 Prozent an. Zudem stellte sie weitere Zinserhöhungen in Aussicht. Damit schreitet die Inflationsbekämpfung weiter voran. Diese ist zweifelsfrei notwendig. Doch mit den Zinserhöhungen steigt die Gefahr, dass die Geldpolitik unerwünschte Nebeneffekte hervorruft. Wenn die Notenbanker restriktiver agieren als notwendig, besteht die Gefahr, dass aus der erhofften „weichen Landung“ dann doch eine (starke) Rezession werden könnte.
Wie stark die US-Geldpolitik schon jetzt wirkt, wird dabei mit Blick auf das Geldmengenwachstum ersichtlich. Im Dezember 2022 war die jährliche Wachstumsrate der US-Geldmenge M2 im betrachteten Zeitraum seit 1970 mit -1,3 Prozent erstmals rückläufig. Unter Berücksichtigung der US-Verbraucherpreisinflation schrumpfte die Geldmenge „real“ sogar um gut sieben Prozent (vgl. Grafik).
Dem ging einerseits ein historisch hoher Geldmengenüberhang zu Beginn der Pandemie voraus. Andererseits dürfte die jüngere Geldpolitik noch eine ganze Weile restriktiv wirken, wenn sie die Inflationsdynamik brechen will. Damit dürften auch die realwirtschaftlichen Belastungen weiter steigen. Noch ist unklar, wie stark die Wirtschaft auf den aktuellen Geldentzug reagieren wird.
Die aktuelle Gemengelage ist historisch einmalig. Entsprechend komplex ist das Ausloten der „richtigen“ Geldpolitik. Die Kosten „falscher“ Entscheidungen dürften in der Vergangenheit jedenfalls selten so hoch gewesen sein wie im aktuellen Inflationsumfeld. Umso wichtiger wäre es, verschiedene Meinungen und Szenarien in die Entscheidungsfindung einfließen zu lassen.
Das FOMC sollte sich einen differenzierten Blickwinkel erarbeiten, auch wenn das Abstimmungsergebnis der US-Notenbank weiter einheitlich ausfallen sollte. Das datenabhängige, graduelle Vorgehen bei den geldpolitischen Entscheidungen untermauert die Reflexivität der Geldpolitik, die in einer hochdynamischen Phase der Wirtschafts- und Inflationsentwicklung immer wieder an veränderte Situationen angepasst werden soll. So sollten grobe Fehler in der Geldpolitik bestmöglich vermieden werden. Denn es steht viel auf dem Spiel.
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