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Gesellschaft
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Der Weg zum Frieden

Nach einem Jahrzehnt der Sorglosigkeit müssen Deutschland und Europa in der Sicherheitspolitik ihre Rollen neu definieren. Eine Einordnung von Wolfgang Ischinger.

Der jahrzehntelange Frieden in Europa endete für die meisten von uns am 24. Februar 2022. Auch wenn es bereits zuvor auch auf unserem Kontinent bedenkliche Aggressionen gegeben hat, ist der Einmarsch russischer Truppen in das UN-Gründungsmitglied Ukraine ein klarer Bruch des Völkerrechts.

Nur wenige Tage später hielt der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Bundestag seine viel zitierte Rede von der „Zeitenwende“. Er kündigte darin Unterstützung für die Ukraine, ein Sanktionspaket gegen Russland und vor allem ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen an, um die Sicherheit unseres Landes zu stärken. Wer nun glaubt, dass die Zeitenwende vor allem aus diesen Versprechen und deren Umsetzung bestand oder besteht und es dann damit sein Bewenden hat, der hat sie nicht verstanden!

Zeitenwende für die Sicherheitslandschaft

Wir stehen, was die Zeitenwende angeht, noch ganz am Anfang – und damit vor einer dramatischen Veränderung der europäischen und globalen Sicherheitslandschaft. Auch für mich persönlich ist dies eine Zeitenwende. Ich habe mich in den vergangenen 40 Jahren immer wieder und somit fast ständig insbesondere mit unserem Verhältnis zur früheren Sowjetunion und zum heutigen Russland befasst. Und es ist für mich eine fast unvorstellbare Tragödie, was passiert ist: So war ich als Mitarbeiter des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, der seine Vision bereits Ende der 1970er-Jahre gerne mit folgenden Worten umrissen hat: „Wenn wir das mit der Wiedervereinigung hinkriegen wollen, dann müssen wir das gemeinsam mit den Russen, mit den Sowjets hinkriegen.“ Und es hat dann ja auf wundersame Weise tatsächlich funktioniert.

Dieses Gebäude, das wir damals geglaubt hatten aufzubauen, ist nun in sich zusammengebrochen – einschließlich der Rüstungskontrolle. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass diese enormen Veränderungen, die sich insbesondere in der russischen Gesellschaft vollzogen haben, irgendwie innerhalb kürzester Zeit wieder zurückgespult werden können.

Ich glaube also, wir haben veritable Probleme vor uns; ein Aggressions-Problem, ein Konfrontations-Problem, dessen zeitliche Dimension noch gar nicht abschätzbar ist. Und da es bei der Sicherheitspolitik grundsätzlich ratsam ist, vom Worst Case auszugehen, würde ich sagen: Dieser Konflikt kann lange dauern.

Dramatische Veränderungen
in Deutschland

Kein Land, das ich kenne, muss seine Außenpolitik, Energiepolitik und Rüstungspolitik dramatischeren Veränderungen unterziehen als die Bundesrepublik Deutschland. Warum aber hat uns diese Zeitenwende so viel massiver getroffen als alle unsere Partner; einschließlich der USA, Frankreichs, des Vereinigten Königreichs?

Die alte Bundesrepublik Deutschland war von ihrem Verfassungsauftrag her ein „Anti-Status-quo-Land“. Denn in der Verfassung stand: Wir wollen den Zustand der Teilung überwinden. Mit der Wiedervereinigung war dieses Ziel dann erreicht und wir Deutschen haben als Nation eine Liebesaffäre mit dem Status quo angefangen.

Und zu diesem Status quo gehörte die Idee der immerwährenden (und immer weiter ausbaufähigen) Partnerschaft mit Russland. Doch es lief dann wie bei so mancher privaten Liebesgeschichte, bei der sich plötzlich der eine Partner trennen will. Dann weigert sich manchmal der andere Partner, das anzuerkennen und tut sich sehr schwer damit.

Auch mit unserem Verhältnis zu Russland haben wir uns sehr schwergetan. So wurde selbst nach der Wahl von Olaf Scholz im Winter 2021/22 an der Ostseepipeline Nord Stream 2 festgehalten, obwohl uns schon damals gefühlt die ganze Welt gesagt hat, ihr seid damit auf dem falschen Weg – und das seit Jahren.

 

"Wenn zwei militärisch miteinander in Konflikt stehende Mächte mit der Absicht, zu einem Ergebnis zu kommen, an den Verhandlungstisch gehen sollen, dann setzt das voraus, dass in beiden Hauptstädten die Erkenntnis gereift ist, dass der weitere Einsatz militärischer Mittel nichts mehr bringt." - Wolfgang Ischinger

Ohne militärische Stärke kein Frieden

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine stellt sich nun die Frage, wie es wieder Frieden geben kann. Lassen Sie mich dazu aus eigener Erfahrung eine kleine Beobachtung mit Ihnen teilen. Ich war der deutsche Chefunterhändler in den 1990er-Jahren, als wir versucht haben, die Kriege in Bosnien und im Kosovo zu beenden. Dort habe ich gelernt: Wenn zwei militärisch miteinander in Konflikt stehende Mächte mit der Absicht, zu einem Ergebnis zu kommen, an den Verhandlungstisch gehen sollen, dann setzt das voraus, dass in beiden Hauptstädten die Erkenntnis gereift ist, dass der weitere Einsatz militärischer Mittel nichts mehr bringt.

Diesbezüglich sind insbesondere beim Kreml und bei Wladimir Putin Zweifel angebracht. Nicht nur ich, viele Experten sind der Meinung, dass man in Moskau eher denkt: Wir halten viel aus. Wir haben Zeit und eine leidensfähige Bevölkerung. Der Westen wird müde werden. Und vielleicht wendet sich das Blatt – etwa nach den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November nächsten Jahres?

Dann ist womöglich bei Putin mit Bewegung zu rechnen. Doch jetzt müssen wir alle – der Westen, die USA, die europäischen Partner – unsere Bemühungen fortsetzen und möglichst intensivieren, die Ukraine bei ihrem Verteidigungskampf so gut es nur irgendwie geht zu unterstützen.

Nur, wenn es für die ukrainischen Truppen entsprechend weiter vorangeht, können wir darauf hoffen, dass im Kreml die Einsicht reift, dass weiterer militärischer Einsatz nichts mehr bringt.

Warum uns die US-Wahl nicht egal sein kann

Die USA sind bis heute die größte Wirtschafts- und Militärmacht der Welt. In unserem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten muss es nun ein Umdenken geben. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war es für unsere Außenpolitik keine strategisch wichtige Frage, ob „A oder B“ der neue US-Präsident wird. Denn sie alle traten für die Nato ein. Sie alle waren immer für ein gefestigtes Europa; mit einer US-amerikanischen Schutzfunktion und Präsenz. Das haben wir somit nach all den Jahren als gegeben hingenommen.

Doch dann wurde Donald Trump gewählt. Er hat große Fragezeichen an der Nato angebracht. Und es gab Bemerkungen gegenüber Europa und den Deutschen, bei denen viel ins Wanken gekommen ist. Deshalb steht nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern die ganze Europäische Union (EU) angesichts des Wahlkampfs in den USA im nächsten Jahr vor einer völlig neuen strategischen Herausforderung.

Erstmals müssen wir uns im transatlantischen Verhältnis mit der Frage befassen: Gibt es etwas, was wir tun oder unterlassen können, damit Isolationisten wie Trump möglichst nicht wieder Auftrieb bekommen – und Transatlantiker einen Wahlsieg erreichen können?

Daher ist es nicht egal, was ein Farmer in Iowa denkt, der nicht die „New York Times“ liest: Es ist gut, dass wir die Europäer haben. Das sind wichtige Verbündete, weil wir uns ja mit China und diesen Themen auseinandersetzen müssen.

Derzeit fürchte ich jedoch, dass es beim Farmer eher in eine Richtung geht, wie: Diese Europäer, insbesondere diese Deutschen, sind ganz billige Trittbrettfahrer, die sich ihre Sicherheit von uns amerikanischen Steuerzahlern subventionieren lassen. Und dann haben Isolationisten wie Trump leichtes Spiel. Daher gilt es meines Erachtens, Mittel und Wege zu finden, um gegenzuhalten.

Eine europäische Stimme in China

Als inzwischen weltweit zweitgrößte Wirtschaftsmacht hat China politisch an Gewicht gewonnen. Leider werden zunehmend auch sicherheitspolitisch relevante nationale Interessen in den Fünf-Jahres-Plänen festgeschrieben. Dennoch glaube ich, dass es wenig Sinn macht, wenn unsere Außenministerin Annalena Baerbock eine deutsche China-Strategie präsentiert, wie kürzlich geschehen.

Ich habe über die letzten Jahrzehnte viel Kontakt mit China gehabt. Noch im Februar war der ranghöchste chinesische Außenpolitiker Wang Ye, inzwischen Mitglied des Politbüros, Gast unserer Sicherheitskonferenz in München. Nichts ist für die Chinesen so angenehm, als die 27 EU-Mitglieder gegeneinander auszuspielen.

Was wir also machen müssen, ist nicht, uns von China abzuschotten. Ich bin gegen diese harschen Vorschläge in Richtung Deglobalisierung oder Rückzug. Ich bin dezidiert dafür, dass wir eine gemeinsame China-Strategie in der EU entwickeln. Dass wir also mit einer Stimme zu wichtigen Themen sprechen. Nur wenn die 450 Millionen Europäer imstande sind, in Peking gemeinsam aufzutreten, haben wir eine Chance, dort ernst genommen zu werden.

Und das gilt mutatis mutandis* natürlich auch für Washington. Wenn wir denken, dass es ein Problem sein könnte, wenn sich die US-Amerikaner in einen Konflikt mit China hineinbegeben, dann müssen wir versuchen, unseren Interessen in Washington Gehör zu verschaffen. Wenn nun aber jeder einzelne europäische Staat in Washington anklopft und womöglich nur von irgendeinem im State Department empfangen wird, dann darf man sich nicht wundern, dass es zu keiner tragenden Veränderung der US-amerikanischen Chinapolitik kommt.

Wenn wir Europäer hingegen gemeinsam signalisieren, dass wir uns ganz eng zum Thema China mit den USA abstimmen möchten, sofern unsere Interessen ernst genommen werden, dann hätten wir womöglich gute Chancen.

Ein Europa, das schützt

Wir brauchen also insgesamt nicht weniger, sondern mehr und eine bessere, außenpolitisch handlungsfähige EU. Darüber werden bereits manche Sonntagsreden gehalten. So spielt das Thema Handlungsfähigkeit der EU auch im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung eine wichtige Rolle. Doch ausgerechnet unser Wirtschaftsminister Robert Habeck hat unlängst darauf hingewiesen, dass es zurzeit nach seiner Meinung zwischen Deutschland und Frankreich so gut wie keine Gemeinsamkeiten mehr gibt. Das ist eine besorgniserregende Polarisierung der Gegensätze. Dann wären offenbar die Fundamente einer gemeinsamen europäischen Aktivität brüchig geworden.

Denn wie kann die EU mit der Zeitenwende, also all den Gefährdungen, die das 21. Jahrhundert uns jetzt präsentiert, fertig werden? Eine gemeinsame Agrar- und Handelspolitik reicht nicht. Und die Integration ihrer Mitglieder darf nicht der einzige Missionszweck der EU sein. Es muss ein neues Ziel hinzutreten. Eines, wie es der französische Präsident Emmanuel Macron elegant beschrieben hat – mit „Europe, qui protège“ („Ein Europa, das schützt“).

Dieses Ziel dürfte den Nerv vieler Bürger treffen – insbesondere von jenen, die europapolitisch zunehmend abspenstig werden. Viele haben das Gefühl, dass die EU mit Problemen wie der illegalen Migration, der transnationalen Verbrechensbekämpfung und so weiter einfach nicht fertig wird.

Jetzt kommt auch noch der Aggressor Russland hinzu. Und Europa kann außer einer gemeinsamen Munitionsbeschaffung wieder einmal nicht so richtig viel ins Feld führen. Daher ist es überfällig, dass die Mitgliedsstaaten der EU sich aufraffen und der Tatsache ins Auge sehen, dass dieses Europa dringend eine Injektion braucht, um sich auf eine neue Stufe europäischer Zusammenarbeit, des Zusammenhalts, des Zusammenwirkens von Integration zu heben.

"Es ist überfällig, dass die Mitgliedsstaaten der EU sich aufraffen und der Tatsache ins Auge sehen, dass dieses Europa dringend eine Injektion braucht, um sich auf eine neue Stufe europäischer Zusammenarbeit, des Zusammenhalts, des Zusammenwirkens von Integration zu heben." - Wolfgang Ischinger

Wir sollten aber nicht erwarten, dass eine derartig wichtige Initiative von Malta, Zypern oder Litauen ausgeht. Große Initiativen sollten von den großen EU-Mitgliedsstaaten wie Frankreich, Deutschland und Italien kommen – am besten von diesen Staaten gemeinsam. Doch wann wurde von der Bundesrepublik Deutschland zuletzt eine große europapolitische Initiative vorgetragen und umgesetzt?

Es war vor 33 Jahren. 1989 haben wir ein kleines Memo verfasst, das die Ausgangsbasis für den Euro war. Seither kam nichts mehr aus Deutschland. Deswegen finde ich, es ist überfällig, dass die Ampelkoalition – hoffentlich gemeinsam mit Teilen der Opposition – Ideen für dieses Europa, das schützt, entwickelt.

Mal zu überlegen wäre, wie man dieses existenziell wichtige Thema in Brüssel anstoßen und dann im Laufe der nächsten, hoffentlich nicht allzu vielen Jahre umsetzen könnte – auch, wenn es keine leichte Aufgabe sein mag, 27 Regierungschefs auf Linie zu bringen.

* Freie Übersetzung aus dem Lateinischen: „nach der Anpassung an die neuen Umstände“.

Prof. Dr. Wolfgang Ischinger war bis 2022 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und ist heute noch der Präsident des Stiftungsrates. Er begann seine außenpolitische Karriere 1973 im Büro des UN-Generalsekretärs und trat 1975 in den Auswärtigen Dienst. Er war persönlicher Mitarbeiter von Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Staatssekretär von Außenminister Joschka Fischer. Zudem war er von 2001 bis 2006 Botschafter in Washington und von 2006 bis 2008 Botschafter in London. Der Beitrag stammt aus dem Magazin „Position“, das Sie hier kostenfrei abonnieren können.

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