Die Inflation ist zuletzt deutlich gesunken. Folgen ihr jetzt auch die Zinsen? Eine Analyse, warum die Notenbanken ihr Ziel noch nicht erreicht haben.
Das Jahr neigt sich dem Ende. Aus Sicht eines Notenbankers erscheint der Rückblick wohl ebenso turbulent wie der Ausblick hoffnungsvoll stimmt. Die Inflation hat sich merklich reduziert – und die Auswirkungen der deutlich restriktiveren Geldpolitik in der Wirtschaft und im Finanzsystem scheinen (noch) sehr überschaubar. Wie geht es weiter?
Anfang Dezember läutete die Bank of Canada die letzte Runde der diesjährigen Notenbanksitzungen ein. Bald folgen die Bank of England, die Europäische Zentralbank (EZB) und die US-Notenbank Federal Reserve (Fed), ehe die Bank of Japan das geldpolitische Jahrbuch 2023 am 19. Dezember „schließt“. Anlass genug für eine kurze Bestandsaufnahme der aktuellen Gemengelage. Mit Blick auf die Relevanz der Notenbanken lohnt vor allem ein Fokus auf die EZB und die Fed.
Das Gesamtbild entwickelt sich in die gewünschte Richtung: Die Eurozonen-Inflation sank im November auf 2,4 Prozent, nachdem im August noch die „5“ vor dem Komma stand. Im gleichen Zeitraum sank auch die Kerninflation (die neben den zyklischen Preisen für Energie auch Lebensmittelpreise ausklammert) im Euroraum merklich von 5,3 Prozent auf zuletzt 3,6 Prozent.
Zudem bleibt die gesamtwirtschaftliche Entwicklung bescheiden. Das vierteljährliche reale Wachstum der Eurozone schwankte in den vergangenen Quartalen um die Nulllinie. Angesichts unverändert restriktiver Refinanzierungsbedingungen spricht auch weiterhin nur wenig für eine deutliche Belebung der Nachfrageseite. Aus diesem Blickwinkel ist eine anhaltende Entspannung an der Inflationsfront weiter gut zu begründen.
Dennoch gibt es keine Entwarnung. Denn eine sich abschwächende Inflationsdynamik ist noch keine Garantie für eine zeitnahe Erreichung des Preisstabilitätsziels. Einerseits dürften sich die ausgeprägten disinflationären Effekte durch die gesunkenen Energiepreise nach vorne schauend wieder reduzieren. Andererseits erhöht ein nach wie vor robuster Arbeitsmarkt – mit einer rekordniedrigen Erwerbslosenquote von 6,5 Prozent in der Eurozone – den Aufwärtsdruck bei den Löhnen.
Außerdem gab es in den vergangenen Jahren erhebliche Reallohnverluste. In Deutschland lagen die inflationsbereinigten Gehälter in den ersten drei Quartalen dieses Jahres um gut fünf Prozent unter dem Vorpandemieniveau aus dem Jahr 2019. Der Spielraum für lohnseitige Nachholeffekte scheint groß zu sein.
Das wissen auch die Notenbanker und Notenbankerinnen. Eine zu frühe geldpolitische Lockerung könnte in einem solchen Umfeld eine fatale Signalwirkung entfalten und gut verankerte Inflationserwartungen belasten. Zinsseitigist vorerst wohl nur wenig Bewegung bei der EZB zu erwarten. Die sich abschwächende Inflationsdynamik senkt die Notwendigkeit weiterer Zinserhöhungen, einerseits.
Andererseits sind die „Aufwärtsrisiken“ bei der Inflation noch zu ausgeprägt, als dass zeitnah erste Zinssenkungen in den Raum gestellt werden können. In diesem Umfeld dürfte die EZB an ihrer behutsamen Vorgehensweise der vergangenen Quartale festhalten und die kommenden Monate und Datenpunkte zunächst abwarten. Andere Möglichkeiten hat sie angesichts der unverändert hohen Unsicherheit beim Wirtschafts- und Inflationsausblick derzeit wohl auch nicht.
Auch in den USA entwickelt sich die Inflation in die richtige Richtung. Die US-Inflation sank, gemessen am U.S. Consumer Price Index, von rund sechs Prozent zu Jahresbeginn auf 3,2 Prozent im Oktober. Die weniger zyklische Kerninflation ging im gleichen Zeitraum von 5,5 Prozent auf 4,0 Prozent zurück. Die Tendenz stimmt also, allerdings scheint ein nachhaltiges Erreichen des Zwei-Prozent-Ziels noch nicht in unmittelbarer Reichweite. Das liegt auch daran, dass sich die US-Wirtschaft zuletzt äußerst resilient zeigte. So betrug das annualisierte US-Realwachstum im dritten Quartal 2023 stattliche 5,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal.
Ein sehr relevanter Faktor für den kurzfristigen US-Wirtschaftsausblick und damit auch für den Inflationsdruck in den USA ist die Kaufkraft (und Kauflust) der US-Konsumenten. Schließlich verantworten private Konsumausgaben knapp 70 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der größten Volkswirtschaft der Welt. Tatsächlich gibt es nach heutiger Datenlage noch keine eindeutigen Signale, die auf einen unmittelbar bevorstehenden Einbruch beim Konsum hindeuten:
Die noch immer anhaltende Stärke der US-Konsumenten ist auch den US-Notenbankern nicht verborgen geblieben. Und die US-Wirtschaft zeigt sich bislang erstaunlich robust. Nach vorne schauend fehlen also eindeutige Signale, auf Basis derer sich eine deutliche und zeitnahe Schwäche von US-Arbeitsmarkt und US-Wirtschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit ableiten ließe. Damit besteht auch im Jahr der Präsidentschaftswahlen für die US-Inflation ein erhöhtes Aufwärtsrisiko. Mit Blick auf das selbst gesetzte Zwei-Prozent-Inflationsziel spricht aktuell daher viel dafür, dass es zeitnah keine Zinssenkungen geben dürfte.
Vorerst dürfte die Fed wohl weiter restriktiv agieren. An dem Tag, an dem der US-Arbeitsmarkt aber tatsächlich mal spürbarer „kippen“ würde, könnte sich die Notwendigkeit einer anhaltend restriktiven Geldpolitik jedoch schnell ins Gegenteil umkehren.
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