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Noch nicht am Ziel

An den Finanzmärkten ist in den vergangenen Wochen eine gewisse Ruhe eingekehrt. In der Geldpolitik und an den Börsen hat sich wenig verändert – obwohl sich einiges getan hat. War es das jetzt? Zeit für eine Zwischenbilanz. Ein Gespräch mit dem Portfoliomanager Tobias Schafföner und dem Kapitalmarktstrategen Thomas Lehr.

Thomas Lehr: Vor etwas mehr als zwei Jahren stieg die Inflation in der Eurozone erstmals über die Marke von zwei Prozent. Mit einiger Verspätung zog die Europäische Zentralbank (EZB) dann die Zinsen hoch. Das Ausmaß der Zinswende ist auch bisher schon ordentlich. Trotzdem scheinen die Auswirkungen bislang überschaubar.

Tobias Schafföner: Allmählich zeigen sich aber schon einige Folgen in der Wirtschaft. Auch wenn wir von echten Bremsspuren weit entfernt sind.

Thomas Lehr: Obwohl Deutschland sich ja mittlerweile in einer Rezession befindet oder zumindest befunden hat.

Tobias Schafföner: Nach der technischen Definition ist das richtig: Es gab zwei Quartale mit einem negativen, realen Wachstum.

Thomas Lehr: Wobei das Wörtchen „real“ sehr relevant ist.

Tobias Schafföner: Ganz genau. Bei solchen Daten lohnt es sich immer genauer hinzusehen, nicht nur als Anlegerin oder Anleger. Die Wirtschaft in Deutschland ist real, also inflationsbereinigt, im vierten Quartal 2022 und dem ersten Quartal 2023 um insgesamt 0,9 Prozent geschrumpft. Gleichfalls wurden im ersten Quartal Güter und Dienstleistungen im Wert von rund einer Billion Euro in Deutschland erwirtschaftet. Das ist ein neuer Rekord und fast 6 Prozent mehr als vor einem Jahr. Nominal, also inklusive Inflation, ist die Wirtschaft also ganz schön gewachsen. Untergangsstimmung ist (bisher) also wenig angemessen.

Thomas Lehr: Da könnte man fast sagen: So eine Rezession wünscht man sich. Aber wird vielleicht genau dieses Phänomen, also das nominal positive Wachstum, nicht gerade wiederum zum Problem? Aus dem Blickwinkel der Inflationsbekämpfung ist Wachstum ja eher schädlich. Etwas zugespitzt könnte man sagen: In der aktuellen Geldpolitik gehört eine (milde) Rezession fast zum Plan dazu.

Tobias Schafföner: Die Notenbanken würden diese zumindest billigend in Kauf nehmen. Warum ist das so? Wenn man von einer Rezession redet, denkt man in der Regel an eine starken Wirtschaftseinbruch mit negativen Folgen für den Arbeitsmarkt. Das sorgt dann dafür, dass weniger konsumiert wird. Weniger Preisdruck sorgt dann wiederum für eine Entspannung bei der Inflation. Davon kann bislang aber keine Rede sein.  

Thomas Lehr: Auf den ersten Blick sind die Inflationsraten auch schon runtergekommen. Das gilt vor allem für die USA, wo der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr von 9,1 Prozent in der Spitze auf zuletzt 4,0 Prozent gesunken sind. Andererseits notierte die Kerninflation, bei der die stark schwankenden Preise für Energie und Lebensmittel ausgeklammert werden, mit 5,3 Prozent sogar über dieser allgemeinen „Headline-Inflation“.

Tobias Schafföner: Die Energiepreise liefern aktuell einen negativen Inflationsbeitrag. Mit Blick auf die Kerninflation ist es aber für eine Entwarnung zu früh. Wir haben ja schon über den Arbeitsmarkt gesprochen. Der ist weiterhin in einer guten Verfassung, nicht nur in den USA, auch in Deutschland. Die Ergebnisse der Lohnrunden, die bereits abgeschlossen sind und das, was an Lohnabschlüssen noch ansteht, ist schon beachtlich. Die rasant gestiegenen Gehälter sorgen für einen strukturellen Inflationsdruck. Die Inflation ist gekommen, um zu bleiben.

Thomas Lehr: Dennoch haben wir vor allem in den USA, aber auch in Europa gesehen, dass das Tempo der Zinserhöhungen abnimmt.

Tobias Schafföner: Wobei das Tempo mit Blick auf das gesamte Jahr 2023 schon eindrucksvoll ist. Nun haben die USA auf hohem Niveau eine Pause eingelegt, die erste seit 15 Monaten. Die EZB hat einen weiteren Zinsschritt gemacht; schließlich hängen wir immer ein bisschen hinterher.

Thomas Lehr: In den USA gingen die Referenzzinsen seit dem Jahreswechsel von einem bereits hohen Niveau bisher um 0,75 Prozentpunkte hoch, in der Eurozone um 1,5 Prozentpunkte. Dieser geldpolitische Ehrgeiz spiegelte sich zuletzt aber nicht am Markt. Die Renditen zehnjähriger Staatsanleihen notieren fast unverändert auf dem Niveau, das wir schon am Jahresanfang gesehen haben.

Tobias Schafföner: Die Renditen haben sich natürlich auf und abwärts bewegt, aber die Renditen langlaufender Staatsanleihen notieren heute auf dem gleichen Niveau wie zu Jahresanfang. Was nichts anderes bedeutet, als dass die Notenbanker ihren geldpolitischen Zukunftspfad sehr gut kommuniziert haben. Die jüngsten Maßnahmen konnten niemanden am Markt mehr überraschen.

Thomas Lehr: Haben die Notenbanken ihr Ziel, die Eindämmung der Inflation bei möglichst moderaten ökonomischen Nachteilen, bald erreicht?

Tobias Schafföner: Bei dieser Interpretation wäre ich vorsichtig. Der Kampf gegen die Inflation ist noch lange nicht gewonnen. Wir sehen eher ein „geldpolitisches Innehalten“.  Denn die Notenbanker wissen: Geldpolitik wirkt erst mit teils langen Verzögerungen. Und beieiner restriktiver werdenden Geldpolitik gibt es immer auch Risiken und Nebenwirkungen. Immerhin haben wir dieses Jahr auch schon eine (kleine) Bankenkrise gesehen.

Thomas Lehr: Erstmal ist also Geduld gefragt. Aber bald stellt sich dann wieder die Frage: Gehen die Zinsen weiter nach oben? Oder können wir schon wieder mit Zinssenkungen rechnen? Und vor allem: Warum sollte sich die Geldpolitik in die eine oder andere Richtung bewegen?

Tobias Schafföner: Die Frage nach dem „Warum“ ist entscheidend. Weitere Zinserhöhungen auf Sicht sind auch in den USA nicht ausgeschlossen, wenn der strukturelle Inflationsdruck hoch bleibt. Die Notenbank-Gouverneure haben bereits etwas in der Richtung angekündigt, in ihren „Plots“. Die sollte man nicht als Prognose interpretieren, sie illustrieren aber, dass in diesem Jahr durchaus noch ein, zwei kleinere Zinsschritte kommen könnten.  

Thomas Lehr: Letztlich werden die Entscheidungen datenabhängig sein. Wenn also die Inflation nicht herunterkommt, müssen Notenbanken reagieren. Wenn doch, dann nicht.

Tobias Schafföner: Wir sehen immer mehr Kollateralschäden der Geldpolitik. Und gäbe es – was wir im Moment noch gar nicht sehen – eine deutliche wirtschaftliche Abkühlung, Turbulenzen am Arbeitsmarkt oder weitergreifende Kollateralschäden im Finanzsystem, könnten dies Auslöser für schnelle Zinssenkungen sein. Zinsschritte nach unten, allein weil die Inflationsdynamik etwas nachlässt, sollte man dagegen eher ausschließen.

Thomas Lehr: Kommen wir mal von Geldpolitik, den Zinsen und der Inflation zum Aktienmarkt. Inflation bedeutet immer auch eine Inflationierung der Unternehmensgewinne. Das hilft Aktien. Für Anlegerinnen und Anleger ist diese Anlageklasse für die Absicherung gegen Kaufkraftverluste daher sehr bedeutend.  

Tobias Schafföner: Das stimmt natürlich, auch wenn man Aktienanlagen immer über die lange Frist beurteilen sollte. Für uns zählt zunächst immer der langfristige, fundamentale Blick: Gelingt es den Unternehmen, ihre Umsätze und Gewinne mit der Inflation zu steigern? Und das haben wir zumindest in der jüngsten Hoch-Inflations-Phase gesehen.

Thomas Lehr: Wir können auch bei der Entwicklung der Aktienkurse auf ein positives erstes Halbjahr 2023 zurückblicken – wobeidie jüngsten Kursgewinne am Aktienmarkt, sagen wir mal, sehr ungleich verteilt sind.

Tobias Schafföner: Da lohnt der Blick unter die Oberfläche. Im Technologiesektor ist einiges passiert dieses Jahr. Da wird einerseits vielleicht auch aufgeholt, was letztes Jahr über Gebühr abgestraft wurde. Gleichfalls mag es auch Narrative geben, die Kurse in euphorische Höhen treiben. Man denke nur mal an das Schlagwort „Künstliche Intelligenz“. Hier gilt es dann, die Bewertungsdisziplin ernst zu nehmen.

Thomas Lehr: Und es gibt ja nicht nur Aktien. Der Zins ist zurück. Anleihen können wieder eine Alternative sein. Auch wenn europäische Staatsanleihen ohne Währungsrisiken auf dem aktuellen Renditeniveau die Inflation noch nicht ausgleichen können. In Summe verlief das Jahr2023 an der Börse alles in allem bislang vergleichsweise ruhig. Das lag auch an den Notenbanken. Ihnen ist es in den vergangenen Monaten gelungen, die Leitzinsen sehr viel geräuschloser anzuheben, als vielfach befürchtet. Die (zuvor eingepreisten) Erwartungen wurden erfüllt.

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