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Gesellschaft
12 Minuten

Was Deutschland von Milei lernen kann

- Gunther Schnabl

Der argentinische Präsident Javier Milei unterzieht das Land einer Radikalkur. Wird er Erfolg damit haben?

Viele waren überrascht! „Rechtspopulist Milei gewinnt Präsidentschaftswahl in Argentinien.“ titelte am 20. November 2023 die Tagesschau. Das Parteienbündnis von Javier Milei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) lag mit 55,76 Prozent klar vor Sergio Massa von der linken „Union für das Vaterland“. „Ich will eine Regierung, die ihre Pflicht erfüllt, die das Privateigentum und den freien Handel respektiert“, verkündete der neue Präsident.

Die Presse in der westlichen Welt reagierte pikiert. „Beobachter im In- und Ausland sind schockiert über den Aufstieg des Außenseiters. Mileis Sieg könnte die argentinische Demokratie auf die schwerste Belastungsprobe seit dem Ende der Militärdiktatur 1983 stellen.“ schrieb Der Spiegel.

Die New York Times fand in Mileis forschem Stil und seiner Affinität zu Verschwörungstheorien sogar Parallelen zu Donald Trump. In einer nicht enden wollenden Wirtschaftskrise hatte der „Anarchokapitalist“ für viele, gerade junge Menschen die Hoffnung auf eine Kehrtwende geweckt.

Mit dem Plan, den wuchernden Staat „mit der Kettensäge“ zurechtzustutzen, grenzte sich Javier Milei klar gegen Sergio Massa ab, welcher für die Fortsetzung der massiven Staatseingriffe in die Wirtschaft einschließlich großzügiger Sozialprogramme stand. Was blüht Argentinien unter Javier Milei?

Die Geschichte des wirtschaftlichen Abstieg

Ein Blick zurück: Argentinien war zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Dank der fruchtbaren Pampas war das Land zu einem Hauptlieferanten von Weizen und Rindfleisch für Europa aufgestiegen, was viele Devisen für den Ausbau der Infrastruktur einbrachte. Millionen von Einwanderern aus Europa brachten Know-how. Rechtsstaatlichkeit und Eigentumssicherheit garantierten wirtschaftliche und politische Stabilität. Buenos Aires war das „Paris Südamerikas“!

Im Juni 1946 wurde der Militär Juan Perón als Kandidat der Arbeiterpartei Präsident. Er stärkte die Rechte der Arbeiter und vergrößerte den Personenkreis, der Anrecht auf Rentenzahlungen hatte von einer halben Million auf 10 Millionen. Mit der Unterstützung der Gewerkschaften trieb er die Industrialisierung Argentiniens mit Verstaatlichungen, staatlicher Kreditlenkung und hinter hohen Zollschranken voran. Das zehrte die Finanzreserven auf und ließ die Staatsverschuldung und die Preise steigen.

Auch nach Perón blieb trotz zahlreicher Regierungswechsel, Putsche sowie Reformversuche unter Carlos Menem (1989 – 1999) und Mauricio Macri (2015 – 2019) das Grundmuster der Wirtschaftspolitik unverändert. Der wirtschaftliche Abstieg setzte sich fort. Javier Milei fasste im Dezember 2023 nüchtern die Lage mit „No hay plata!“ (Es ist kein Geld mehr da!) zusammen. Die Inflationsrate lag zu diesem Zeitpunkt bei über 200 Prozent.

Mileis Plan

Der neue Präsident hat seinen Plan mit dem Wort „Afuera!“ (frei übersetzt: „Weg damit!“) griffig gemacht: radikale Ausgabenkürzungen, entschlossene Deregulierung und Stabilisierung der Währung. Mileis Denken ist in der Österreichischen Schule der Nationalökonomie verankert, die individuelle Freiheit, einen schlanken Staat und Geldwertstabilität als die Grundpfeiler von Wohlstand sieht. Nach Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek bremst die Macht der Regierung über die Zentralbank via Inflation das Wachstum und schafft Ungleichheit.

Der Stanford-Ökonom Ronald McKinnon hat argumentiert, dass die finanzielle Repression – das heißt die Kombination aus künstlich niedrig gehaltenen Zinsen, staatlich gelenkter Kreditvergabe und Inflation – Wohlstand vernichtet, weil die Ersparnisse nicht den leistungsfähigsten Investitionen zufließen.

Die Ungleichheit nimmt zu, weil der Staat die schwindenden Ressourcen bevorzugt seinen Unterstützern – zum Beispiel den Gewerkschaften und Rentnern – zukommen lässt. Alle bezahlen mit steigenden Preisen an den Ladenkassen und durch die Entwertung ihrer Ersparnisse.

Im Lichte des Zusammenbruchs der mittel- und osteuropäischen Planwirtschaften in den frühen 1990er-Jahren hat McKinnon eine Reihenfolge für die wirtschaftliche Liberalisierung konzipiert, die das Wachstum wiederbelebt. Da billiges Geld auf freien Güter- und Finanzmärkten Inflation und Bankenkrisen erzeugt, müsse vor einer Liberalisierung der Märkte die Notenpresse stillstehen. Das sei nur möglich, wenn kein Staatsdefizit mehr besteht. Regulierungen sollen übrigens in dem korporatistisch organisierten Argentinien eine größere Rolle bei der Umverteilung von Wohlstand gespielt haben als die Staatsausgaben.

Der Ausgleich des Staatshaushaltes

Entsprechend war Mileis erster und wichtigster Schritt die Konsolidierung der Staatsfinanzen. Er hat betont, dass es etwas anderes sei, ein Haushaltsdefizit durch höhere Steuern oder durch niedrigere Ausgaben zu reduzieren. Da er Ausgabenkürzungen anvisierte, war „No hay plata“ eine Kampfansage an alle, die es sich im öffentlichen Sektor oder bei Staatsunternehmen mit guten und sicheren Gehältern gemütlich gemacht hatten. Das Staatsdefizit lag im Jahr 2023 bei 5,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Milei kürzte weniger die Sozialausgaben, sondern vor allem die Beschäftigung im öffentlichen Sektor sowie die Ausgaben für öffentliche Bauprojekte, die er mit Korruption verband. Die Anzahl der Ministerien wurde halbiert und 40.000 Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Sektor wurden gestrichen.

Diejenigen, die bleiben konnten, mussten Gehaltserhöhungen unterhalb der Inflationsraten akzeptieren. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Bereits für das Jahr 2024 war das Budget ausgeglichen. So wurde auch die Inflation unter Kontrolle gebracht, weil zuvor die überbordende Kreditvergabe der staatlich kontrollierten Banken an den Staat die Staatsausgaben und die Bankeinlagen der Empfänger der staatlichen Leistungen, und damit die Geldmenge, nach oben getrieben hatte.

Das hatte die Inflation angeheizt. Mit den Staatsausgaben ging deshalb auch die Kredit- und Geldschöpfung der Banken zurück. Die Inflation fiel von 257 Prozent im Februar 2024 auf zuletzt noch 56 Prozent.

Die Stabilisierung der Währung

Doch das Vertrauen in die Banco de la República Argentina war weiterhin gering, weil diese viele wertlose Staatsanleihen in ihrer Bilanz hatte. Sie hatte sich zur Auszahlung hoher Devisenbeträge an Importeure verpflichtet, obwohl sie nicht über ausreichende Dollarreserven verfügte.

Zudem hatte sie versucht, das von Staat und Banken geschaffene Geld durch die Ausgabe eigener Anleihen zu absorbieren, um die Inflation einzudämmen. Da sie für diese Anleihen bei hoher Inflation hohe Zinsen bezahlen musste, geriet die Zentralbank in ein tiefes Defizit. Das gemeinsame Defizit von Zentralbank und Staat lag 2023 bei 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts!

Mit der Konsolidierung der Staatsfinanzen nahm Javier Milei einerseits den Druck von der Zentralbank, Staatsanleihen anzukaufen. Mit den erwirtschafteten Überschüssen konnten andererseits die Devisenverpflichtungen der Zentralbank sowie der kostspielige Bestand von ausstehenden Zentralbankanleihen reduziert werden.

Um den Peso auch auf Dauer zu stabilisieren, könnte Milei die Zentralbank unabhängig machen. Doch jede zukünftige Regierung könnte dies wieder revidieren. Eine Wechselkursbindung des Pesos an den Dollar, mit der Mileis Vorgänger Carlos Menem ab 1991 erfolgreich die Inflation stabilisiert hatte, würde der Zentralbank die Möglichkeit nehmen, vom geldpolitischen Kurs der US-amerikanischen Fed abzuweichen. Doch Menems Currency Board, das die Wechselkursbindung sogar gesetzlich festgeschrieben hatte, brach 2001 zusammen.

So bleibt für Javier Milei die Abschaffung der Zentralbank eine wichtige Vision, um dem Missbrauch des Geldmonopols dauerhaft ein Ende zu setzen. Der Schritt Argentiniens zu einer Dollarisierung wäre gar nicht so groß, weil bereits jetzt viele Dollar halten.

Die Kreditvergabe der Banken in Dollar wurde erlaubt, um die Dollarisierung des Kreditmarkts zu befördern. In Ecuador, das sein Währungssystem im Jahr 2000 dollarisiert hat, unterstützt die Mehrheit in der Bevölkerung diesen Weg, weil er als Garant für Stabilität von Banken und Wirtschaft gilt. Noch steht die Dollarisierung aber nicht auf der Agenda.

Die Liberalisierung der Märkte

Rund 300.000 Gesetze, Dekrete und Beschlüsse soll es vor Milei in Argentinien gegeben haben. Das „Gesetz der Grundlagen und Ausgangspunkte für die Freiheit der Argentinier“ (Ley Bases) gibt dem „Ministerium für Deregulierung und Staatstransformation“ unter Federico Sturzenegger für ein Jahr das Recht, ohne Parlament Dekrete zu ändern, aufzuheben und umzusetzen. 20.000 sollen es schon weniger sein. Nur 90.000 Gesetze, Dekrete und Beschlüsse sollen am Ende bestehen bleiben.

Der erste und wichtigste Schritt war die Aufhebung von Preiskontrollen, zum Beispiel für Grundnahrungsmittel wie Milch, Zucker und Gas. „Buy Argentina“ wurde abgeschafft, einschließlich der Regeln, die vorschrieben, welche Produkte von welchen Unternehmen und welcher Nationalität in welcher Reihenfolge und in welchem Verhältnis in den Läden präsentiert werden durften.

Auf dem Wohnungsmarkt brachte die Aufhebung der einschneidenden Mietpreiskontrollen in Buenos Aires zuerst die Mieten nach oben. Dann weitete sich jedoch das Angebot aus, weil viele Wohnungen aufgrund der Regulierung leer gestanden hatten. Inzwischen liegen die Mieten preisbereinigt niedriger als vor den Reformen.

Nach Sturzenegger senkt die Deregulierung eines Sektors das Preisniveau um circa 30 Prozent. Eine große Herausforderung bleibt die Liberalisierung der Außenwirtschaft.

Die Regierung hat viele Zölle stark reduziert und die pauschale Steuer von 7,5 Prozent auf alle importierten Waren aufgehoben. Sie bekämpft die Bürokratie bei der Zollbehörde. Vorschriften, dass inländische Industrien bei gewissen Importen zustimmen mussten, sind abgeschafft. Der Abbau von Exportkontrollen und das Ende der Exportbesteuerung hat die Exporte wachsen lassen.

Da Devisenkontrollen ein großes Hindernis für den freien Handel sind, hat Javier Milei früh die unterschiedlichen Wechselkurse vereinheitlicht und den Peso stark abgewertet. Damit hat sich der offizielle Wechselkurs dem Schwarzmarktkurs – dem sogenannten blauen Dollar – deutlich angenähert.

Auch die Kapitalverkehrskontrollen (ceto) schmelzen. Die langen Wartezeiten für die Abwicklungen internationaler Zahlungen wurden verkürzt. Die Grenze, was Argentinier für den persönlichen Gebrauch aus dem Ausland bestellen dürfen, wurde auf den dreifachen Betrag angehoben. Die 30-prozentige Steuer auf Kartenkäufe im Ausland wurde im Dezember 2024 abgeschafft. So entsteht mehr Wettbewerb, der die inländischen Unternehmen zu Effizienzgewinnen zwingt. Die Wirtschaftsstruktur dürfte sich weg von der Industrie hin zu Agrarprodukten und Rohstoffen entwickeln, welche international wettbewerbsfähig sind.

Was Deutschland von Milei lernen kann

Ob Javier Milei seine Reformen erfolgreich zu Ende bringen und so auf Dauer blühende Landschaften schaffen kann, wird sich zeigen. Die Liberalisierung des Kreditmarkts hängt zurück, weil viele Banken immer noch dem Staat gehören und die Realzinsen immer noch negativ sind. Die versprochene Vereinfachung des Steuersystems steht noch an. Doch langsam dominieren die Erfolgsmeldungen.

Nachdem zu Beginn der Reformen das Wachstum eingebrochen und die Armutsquote gestiegen ist, war das Wachstum 2024 positiv. Für 2025 prognostiziert der Internationale Währungsfonds sogar 5,5 Prozent. Die Armutsquote liegt inzwischen unter dem Niveau vor Beginn der Reformen. Denn Inflation trifft am stärksten die Schwächsten.

Es zeichnet sich zudem ab, dass die radikale Schocktherapie erfolgreicher ist als die schrittweisen Reformen unter Menem und Macri. Denn Widerstand ist bei einem schnellen Vorgehen schwerer zu organisieren. Die Erfolge werden für die Bevölkerung schneller sichtbar.

Die Beliebtheit des neuen Präsidenten hat trotz der harten Einschnitte nicht gelitten. Sogar der Internationale Währungsfonds, bei dem Argentinien mit 44 Milliarden Dollar in der Kreide steht, hat gratuliert. Es fehlt nur noch, dass die Bevölkerung Argentiniens ihr immenses Auslandsvermögen nach Hause bringt.

Das würde die Währung und die Wirtschaft stärken. Außerhalb des Landes kann sich Javier Milei nun als Vorbild präsentieren. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos hat er ein leidenschaftliches Plädoyer für die Marktwirtschaft gehalten und vor den Gefahren des Kollektivismus gewarnt. Er erinnerte daran, dass der Wohlstand der westlichen Welt auf Freiheit und Individualismus beruht, während im politischen Diskurs der westlichen Demokratien sozialistische Ideen die Oberhand gewonnen hätten.

Donald Trump und Elon Musk haben mit staatlichen Ausgabenkürzungen und Deregulierung – aber nicht bei der Liberalisierung des internationalen Handels – einen ähnlichen Weg eingeschlagen.

Und was kann Deutschland lernen? Auch hierzulande bürden eine stark gewachsene Anzahl von Beschäftigten im öffentlichen Sektor und großzügige Sozialsysteme der Bevölkerung große Lasten auf, die ohne den Rückhalt der Europäischen Zentralbank auf Dauer wohl nicht zu stemmen sind.

Schleichende Kaufkraftverluste haben eine große Anzahl von Verlierern geschaffen, die an die politischen Ränder gedriftet sind. Doch weil die Bevölkerung – im Gegensatz zu Argentinien – nicht bereit für Einschnitte ist, haben sich Union und SPD neuen staatlichen Ausgabenverpflichtungen und Schulden zugewandt. In den Augen von Friedrich Merz ruiniert Milei sein Land. Deshalb bleibt abzuwarten, wer sich eines Tages zu einem deutschen Javier Milei entpuppt, um unsere Stimmung endlich wieder aufzuhellen.

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