Die Europäische Zentralbank (EZB) und die US-Notenbank (Fed) beraten im Dezember zum letzten Mal in diesem Jahr über die Leitzinsen. Wohin wird die Reise gehen?
Im EZB-Tower in Frankfurt gibt es in der jüngeren Zeit viel zu besprechen. Eine erfreuliche Nachricht ist die im kommenden Januar bevorstehende Erweiterung der Währungsgemeinschaft. Mit Bulgarien tritt dem Euroraum der mittlerweile 21. Mitgliedstaat bei.
Ebenfalls für Gesprächsstoff sorgt derzeit der digitale Euro. Wie die EZB vor wenigen Wochen ankündigte, plant sie, dass dieser im Laufe des Jahres 2029 einsatzbereit sein soll. Die digitale Bargeldalternative dürfte nach der Vorstellung der Notenbanker den Wettbewerb im Bereich der Zahlungsabwicklung erhöhen und zudem die strategische Autonomie Europas stärken, indem die Abhängigkeit von ausländischen Zahlungsdienstleistern verringert wird.
Im Vergleich zu solchen Nachrichten sorgt das geldpolitische Tagesgeschäft in diesen Tagen kaum für Aufmerksamkeit.
EZB verharrt im Winterschlaf
Aus gutem Grund. So gab es inflationsseitig zuletzt keinen Handlungsbedarf mehr, der Änderungen an der geldpolitischen Ausrichtung notwendig gemacht hätte. Die EZB befinde sich geldpolitisch weiter in einer „guten Lage“, wie EZB-Ratsmitglied Frank Elderson jüngst betonte. So bewegte sich die Kerninflation, die die volatilen Lebensmittel- und Energiepreise ausklammert, mit 2,4 Prozent im November zwar weiter leicht oberhalb des Zwei-Prozent-Ziels. Allerdings sind diese moderat erhöhten Inflationsraten derzeit nicht mit unmittelbaren Sorgen hinsichtlich möglicher Aufwärtsrisiken für die Inflationsentwicklung verbunden.
Im Gegenteil spricht etwa die Lohnentwicklung dafür, dass sich die Inflationsraten zunächst um das Inflationsziel einpendeln könnten. Der „ECB Wage Tracker“, der die Lohnentwicklung im Euroraum auf Basis bereits ausgehandelter Lohnerhöhungen fortschreibt, zeigt derzeit an, dass sich die Lohninflation – Einmalzahlungen ausgeklammert – weiter abschwächen soll: Von 4,3 Prozent im zweiten Quartal 2025 auf geschätzte gut drei Prozent im Schlussquartal 2025 und schließlich auf 2,5 Prozent im zweiten Quartal 2026. Für den Moment rechtfertigt dies also die abwartende Haltung der EZB.
Wann wird sich die Zinspolitik ändern?
Unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, wie lange die Euro-Notenbanker an ihrer derzeitigen Ausrichtung festhalten. Mit Bestimmtheit lässt sich die zukünftige Geldpolitik einer datenabhängig agierenden Notenbank nicht vorhersagen. Schließlich bleiben die Auf- und Abwärtsrisiken für die Inflation vielfältig: So könnte eine weitere Fragmentierung des Welthandels erneut Störungen der Lieferketten nach sich ziehen und einen Anstieg der Importpreise zur Folge haben. Gleichzeitig können erhöhte Verteidigungs- und Infrastrukturausgaben den Inflationsdruck erhöhen. Umgekehrt würde eine weitere Euro-Aufwertung die Nachfrage nach Exporten in den Euroraum verringern und mit sinkenden Importpreisen einhergehen.
Kurzum: Es existiert derzeit kein vorab festgelegter Zinspfad. Vorstellbar wäre auch, dass die vergangene Senkung des EZB-Einlagenzins auf 2,0 Prozent im Juni dieses Jahres noch eine ganze Weile die letzte bleiben könnte. Aus Sicht des Kapitalmarkts ist derzeit das wahrscheinlichste Szenario, dass die EZB im Jahr 2026 überhaupt keine Anpassung der Leitzinsen vornimmt. Demnach könnte der „Winterschlaf“ der EZB auch den kommenden Sommer und Herbst hindurch überdauern.
Zinssenkungen der Fed sind wahrscheinlich
In den USA stellt sich die geldpolitische Situation momentan etwas anders dar. Hier erscheint die ein oder andere Zinssenkung bei den kommenden Fed-Sitzungen durchaus wahrscheinlich. Ursächlich dafür sind vor allem zwei Dinge: Zum einen ein anhaltend schwaches Beschäftigungswachstum im Jahr 2025, das mit entsprechenden Abwärtsrisiken für den US-Arbeitsmarkt einhergeht. Zum anderen der Umstand, dass die US-Leitzinsen bei einem Niveau von 3,75 bis 4,0 Prozent Spielraum bieten, die Geldpolitik bei Bedarf weniger restriktiv zu gestalten.
In diesem Zusammenhang ist zunächst einmal erbaulich, dass die Fed nach dem 43-tägigen US-Shutdown im Oktober und November demnächst wieder vollumfänglich auf öffentliche Daten zurückgreifen und sich so einen möglichst vollständigen Gesamteindruck verschaffen kann. Gleichwohl löst die Rückkehr der Datenverfügbarkeit nicht die Herausforderungen bei der Interpretation ebendieser Daten. Denn de facto sind Volkswirtschaften schwer zu verstehen, „weil sie in gewisser Weise die komplexesten Dinge sind, die jemals von Menschen geschaffen wurden“, wie es Fed-Gouverneur Christopher Waller jüngst formulierte.
Ein schwächelnder US-Arbeitsmarkt
Entsprechend anspruchsvoll ist es, gegenläufige Entwicklungen abzuwägen. Da wäre der offensichtliche, negative Trend beim Beschäftigungswachstum. In den drei Monaten von Juli bis Oktober stieg die private Beschäftigung in den USA nach Angaben des Lohnbuchhaltungsunternehmens ADP um insgesamt gerade einmal 10.000 Personen an.
Auch die US-Arbeitslosenquote zeichnete jüngst eine leicht negative Dynamik und legte von 4,0 Prozent zu Jahresbeginn auf 4,4 Prozent im September zu. In die gleiche Kerbe schlägt ein schwaches Konsumentenvertrauen, das sich nach Angaben des Conference Board im November 2025 sichtlich dem Mehrjahrestiefstand vom April dieses Jahres annäherte. Diese Entwicklungen bieten nachvollziehbare Argumente für weitere Zinssenkungen.
Nun sind Volkswirtschaften allerdings hochkomplex, wie Waller betonte. Hinsichtlich der US-Beschäftigung war zuletzt eine bekannte Herausforderung, dass es in diesem Jahr unter der Administration von US-Präsident Donald Trump einen Bruch mit der historischen Nettoeinwanderung gab. Wie die Federal Reserve Bank of San Francisco jüngst schätzte, wäre die US-Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ohne die jährliche Nettoeinwanderung von Millionen Menschen bereits seit 2012 gesunken.
Infolge der veränderten Migrationspolitik wird das Thema der Gesellschaftsalterung damit auch in den USA zumindest etwas drängender. In diesem Jahr dürften nach Angaben der Fed-Analysten lediglich eine halbe Million Menschen netto in die USA einwandern, nach 2,2 Millionen in 2024 und gut drei Millionen in 2023. Teile des kaum noch vorhandenen Beschäftigungswachstums bleiben daher dem sinkenden Angebot an Arbeitskräften geschuldet.
Unklare Rolle der vermögensstarken Haushalte
Gleichzeitig ist auch bei der Interpretation eines eingetrübten Konsumentenvertrauens Vorsicht geboten – gerade im Hinblick auf die ökonomische Relevanz verschiedener Verbraucherkohorten. Denn während sich die Stärke des US-Arbeitsmarkts natürlich über den Zustand der US-Wirtschaft und damit über die Konsumbereitschaft des US-Konsumenten definiert, ist die ökonomische Wahrheit gleichwohl, dass die US-Wirtschaft in besonderem Maße von der Kaufkraft und Konsumlaune einer einkommens- und vermögensstarken Bevölkerungshälfte abhängt. So entfiel im vergangenen Jahr rund 75 Prozent des Privateinkommens auf die einkommensstärksten 40 Prozent der US-Haushalte, wobei die einkommensstärksten 20 Prozent der US-Haushalte sogar gut die Hälfte der Einkommen vereinnahmten.
Zudem besitzt die vermögensstärkere Hälfte der US-Bevölkerung etwa 97,5 Prozent des Nettovermögens der US-Haushalte. In einem Jahr, in dem der US-Aktienmarkt mal wieder zweistellig im Plus ist, könnte ein positiver Einfluss des Vermögenseffekts entsprechend für eine verbesserte Konsumlaune der vermögenden US-Bevölkerung sprechen. Damit würde dies den Privatkonsum ankurbeln.
Trotz einer schwachen Beschäftigungsdynamik rechtfertigen derartige Unwägbarkeiten momentan eine unverändert behutsame Vorgehensweise der Fed. Das gilt auch vor dem Hintergrund der nach wie vor erhöhten Inflationsraten, die bei einem Niveau von zuletzt drei Prozent leichte zollbedingte Preisanstiege verkraften müssen.
Umgekehrte Vorzeichen
Zufriedenstellende Inflationsaussichten könnten der EZB bis in den Frühling oder darüber hinaus einen geruhsamen Winterschlaf bescheren. Denn sofern Überraschungen in der Großwetterlage ausbleiben, drängen sich vorerst keine Anpassungen der Leitzinsen auf. In den USA sind in den kommenden Quartalen hingegen einige Zinssenkungen vorstellbar. Gut möglich, dass die erste bereits beim Zinsentscheid im Dezember vollzogen wird. Nahrung erhalten mögliche Zinssenkungen der Fed unverändert von der Kombination aus gestiegenen Abwärtsrisiken am Arbeitsmarkt und einer (noch) leicht restriktiven Geldpolitik.
Damit sehen sich EZB und Fed im Vergleich zum Jahresende 2024 derzeit umgekehrten Vorzeichen gegenüber. Damals blickte die EZB auf vier Zinssenkungen seit Juni 2024 zurück. Ihren Zinssenkungszyklus sollte sie in der ersten Jahreshälfte 2025 mit vier weiteren Schritten fortsetzen. Demgegenüber befand sich die US-Notenbank Ende vergangenen Jahres – ähnlich wie die EZB heute – eher an der Seitenlinie. Es folgte eine neunmonatige Zinspause der Fed, die erst mit der Zinssenkung im zurückliegenden September endete.
Im Ergebnis spricht daher viel dafür, dass sich die US-Leitzinsen dem Leitzinsniveau im Euroraum in den kommenden Quartalen weiter annähern – wohlwissend, wie schnell sich die Datenlage ändern kann.
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